Reginald Rudorf schrieb am 26.04.1976 in "Die Welt"


Texte aus der lyrischen Truhe

Herman van Veen, das holländische Totaltalent


"Ich habe eine dumme Nase und einen frechen Mund", meint Herman van Veen, 30, über sich.

Der holländische Entertainer, der heute mit Ausschnitten aus seinem Tournee-Programm auf dem Bildschirm erscheint, birst vor Qualität und Begabung. Er ist ein Totaltalent. Und das drückt sich in Tanz, Pantomime, Vortrag, Chanson und Komposition aus.

Die Intellektuellen mögen ihn. Die Kritiker loben ihn einmütig, von der modischen linken bis zur rechten Mitte. Herman van Veen zählt zu jener Nachkriegsgeneration, die zu Zeiten der akustischen Apo vor sechs Jahren schon aus den Revoluzzerstiefeln heraus war. In seinen Songs und Sketchen stoßen sich daher nicht die kantigen Pseudothesen im ideologischen Käfig, sondern werden Sentiments gehätschelt: Trauer gibt es bei van Veen.

Van Veen´s Verse kann man ob ihrer sensiblen Sinnlichkeit fast anfassen: "He, kleiner Fratz auf dem Kinderrad, gekonnt hältst du die Balance...der Teich zeichnet dein Bild, du überholst glatt ein Schwanenpaar, der Schwanerich lächelt nur mild, das Sonnenlicht spielt in den wirbelnden Speichen, der Radweg glänzt schwarz wie Lakritz...Flitz..."

Der Zärtlichkeitsfanatiker lässt aus seinen wehmütigen Worten den Frühling agitatorisch entschlackter Wörter wehen: Er war der Vorbote jener europäischen Liedermacher, die sich der Zwangsvorstellung vom Lied als Weltverbesserungs-Phonetik entwanden, um die Poesie wiederzubeleben. Er ist so etwas wie ein resozialisierter Degenhardt, ein Kitter, der vom Kopf auf die Füße gestellt wurde, ein von Eintönigkeit befreiter Reinhard Mey, ein entbegrifflichter Heller, ein unpathetischer Heltau, selbst ein Stück Racke-Rauchzart von der Knef klemmt in seiner Kehle, ein Tropfen Dekandez der Pluhar und natürlich alles aus der großen Clown-Familie holländischer Entertainment-Tradition, die von Veen-Höhen über Carell-Mitte bis zu van-Burg-Niederungen reicht.

Am Utrechter Konservatorium studierte der 1,82 Meter große van Veen Musik und Gesang. Sozialsatirische Kabarettarbeit bildete den Start, eine Tournee durch Holland und Flandern mit dem "Harlekin-Programm" brachte im 1967 den ersten Erfolg.

Die Kompositionen geben zuweilen Anlaß fürs Missvergnügen: Sie fallen oft unter den Wörtern van Veens weg, weil die Noten zum Text aus der lyrischen Truhe geholt werden. Was hier fehlt, ist Pop, Takt, zwingend Swing - das was André Heller durch seinen Komponisten Michael Schönherz zuwege brachte: nämlich ein Zwiegespräch zwischen Text und Ton. Das ist bei van Veen zu vermissen.

Dies als kleine kritische Rechnung von der stolzen Sängersumme abgezogen: Da bleibt halt ein Mann, der den Zwang der leisen Lieder beherrscht, elektrische Beleuchtung und elektronische Bedienung. Herman van Veen hat die poetische Mitte unter den Liedermachern wieder attraktiv gemacht.



Reginald Rudorf