Herman van Veen schreef 25 juni 2006 in de Berliner Morgenpost


Das orangene Gefühl

"Wir wollen schön" - so beschreibt der Liedermacher aus Holland die Forderung an die Nationalmannschaft


Von Herman van Veen


Es war in den 50er Jahren: Ich muß ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, als wir Kinder mit unserem Vater vor dem Radio saßen und auf den Anpfiff eines Spiels der niederländischen Nationalmannschaft warteten. Als dann die Hymne aus dem Lautsprecher dröhnte, begann mein Vater vor unseren Augen leise zu weinen.

Dieser Gefühlsausbruch hing mit seinen Erfahrungen aus dem Krieg zusammen, er hat uns sehr berührt und beeindruckt. Ich denke oft an jene Zeit zurück, wenn ich diese Melodie höre. Denn damals entstand in mir, was ich das orangene Gefühl nenne: die Verbundenheit der Niederländer untereinander und mit ihrer Nationalmannschaft.

Die Farbe Orange vereint die Bewohner aller zwölf Provinzen als Niederländer. Sie vereint die Mitglieder aller Bevölkerungsschichten als Fußballfans. Im Gegensatz zu Deutschland, wo der Sport erst in den vergangenen Jahren in der Mitte der Gesellschaft seinen Platz fand, gingen bei uns schon immer alle zum Fußball und vor allem zur Nationalmannschaft - getrieben vom typisch holländischen Ansinnen, in großer Gemeinschaft zu feiern.

Wenn man ehrlich ist, liefert uns die Fußball-WM genau wie der Karneval eigentlich nur ein Alibi, um möglichst viel Bier mit unseren Freunden trinken zu können. Ist das Turnier vorbei, lassen wir Holländer unsere orangefarbene Kleidung gleich an, fahren zur Tour de France, feuern Michael Boogerd an und trinken in Alpe d'Huez viel Bier mit unseren Freunden.

Wir lieben den Fußball aber auch, weil er ein so schönes Spiel ist. Und als solches betrachten wir es auch: Wenn Deutschland ein Spiel verliert, verliert die ganze Nation. Verliert Holland ein Spiel, verliert die Nationalmannschaft. Fußball ist ein Spaß und wird in seiner Wichtigkeit sehr relativiert, bei unseren TV-Übertragungen und Analysen lachen Moderatoren und Experten viel mehr als anderswo.

Wenn wir wieder einmal ausscheiden, dann warten wir eben auf das nächste Turnier. Wenn wir stolz auf das Gezeigte sein können, sind Rückschläge kein Problem. Diese Einstellung hat mit unserer geographischen Lage zu tun. Wir leben im Land der Winde, alles verweht, nichts bleibt kleben, was geschehen ist, ist geschehen.

Daß wir nicht um jeden Preis gewinnen wollen, hat für unsere Elf aber auch durchaus Nachteile. Wenn wir Fußball als Spaß sehen, soll er auch Spaß machen. Oder um es einfach auszudrücken: Wir wollen schön! Und wie das geht, weiß jeder einzelne Einwohner des Landes am besten. In unserem Land leben 16 Millionen Nationaltrainer, und alle würden eine andere Formation aufs Feld schicken. Dennoch stehen wir zumeist zu unserem Bondscoach, im Moment sowieso. Marco van Basten ist ein Held, er war ein wunderbarer Spieler, der bei der Europameisterschaft 1988 mitverantwortlich für unseren einzigen großen Titelgewinn war. Ich schätze van Basten auch aufgrund seiner Intelligenz. Er ist ein sehr geistreicher Mann, den ich gern reden höre und dem ich, wie die meisten meiner Landsleute, sehr vertraue. Auch wenn er nicht mehr nur fürs Spektakel steht.
Die Lust daran bedeutet nämlich nicht, daß wir auf dem Weg zum WM-Titel nicht auch ein unansehnliches Spiel akzeptieren könnten. Verdient hätten wir den Pokal nach zwei Endspiel-Niederlagen allemal. Falls die Deutschen nun denken sollten, daß unser größtes Trauma auf das Jahr 1974 datiert ist, liegen sie falsch. Damals hatten wir zwar auch eine phantastische Mannschaft und waren im Finale klar besser als die Deutschen. Wir waren aber auch dümmer und haben den Pokal daher nicht in den Händen gehalten.
Vier Jahre später wurde uns der Titel aber durch die Politik der heimischen Militärjunta gestohlen. Beim Turnier in Argentinien spielte die beste holländische Mannschaft aller Zeiten. Im Endspiel hätten wir gegen Argentinien drei Stunden lang spielen können, ohne eine faire Chance zu bekommen. Der Gastgeber sollte triumphieren. Sollten wir also jemals eine Weltmeisterschaft gewinnen - es wäre zum Beispiel in diesem Jahr sehr schön -, wäre es eine Revanche für 1978, nicht für 1974.

Für mich ist es übrigens schwierig, mich zu entscheiden. Seit 35 Jahren toure ich durch Deutschland, habe jeden Zipfel des Landes kennengelernt und viel erlebt. Wenn Deutschland Fußball spielt, bin ich für Deutschland, gerade jetzt, wo die Mannschaft unter Klinsmann auf einmal schön spielt. Spielt Deutschland gegen Holland, bin ich für den Besseren und hoffe, daß es Holland ist. Mein Traum wäre es, wenn im Finale meine beiden Lieblingsmannschaften aufeinander träfen und ich die Nationalhymnen beider Länder singen dürfte. Das wird leider nicht möglich sein, da die Musik bei der WM vom Band kommt. Ich finde, eine Hymne muß gesungen werden.

Dies habe ich einmal getan. Es war bei einem Länderspiel in Kanada. Ich war dort auf Tournee und wohnte im selben Hotel wie die Elftal, wie wir unsere Nationalmannschaft nennen. Ein Zufall. Der Verband fragte mich, ob ich die Nationalhymne singen wollte. Ich bejahte umgehend und erlebte aus vier Gründen einen der größten Momente meiner Karriere.

Erstens bin ich ein grandioser Fußballfan, und das Gefühl, mit diesen Spielern auf dem Feld zu stehen, war wunderbar. Zweitens hat die Hymne eine ganz spezielle Bedeutung für mich. Drittens waren in dem ausverkauften Stadion viele tausend holländische Immigranten, die so fühlten wie ich und so laut mitsangen, daß ich eine Gänsehaut bekam. Viertens war mein Sohn auf der Tribüne und sah seinen alten Herrn gerührt auf dem Feld mit seinen Helden stehen. Ich wiederum sah, wie sehr ihn dies rührte.

Da beschlich es uns beide, dieses orangene Gefühl.



Aus der Berliner Morgenpost vom 25. Juni 2006