B. Hendrich schreef 24 oktober 1997 in de Ostsee Zeitung


Schockierender Clown

4000 fühlten in Rostock mit Herman van Veen


Von B. Hendrich


Rostock (OZ) Herman van Veen sieht schrecklich aus: Die Haare wirr, die Bewegungen fahrig, das Hemd schlampig, und aus dem offenen Hosenschlitz hängt ein Stück Stoff. Mit einem kleinen, schiefen, verschmitzten Lächeln stolpert er über die Bühne der Rostocker Stadthalle. Eben noch hatte er ganz seriös einen Brief verlesen. An Herman adressiert. Darin bat ihn jemand, unbedingt weiterzusingen. Auch wenn die Welt immer kälter werde und das Geld immer mächtiger. "Bitte sing, Herman!". Und wenn er Beistand brauche, dann könne er diesen Brief im Koffer ständig bei sich tragen. Van Veen geht zum Koffer und findet eine Schnapsflasche. Das Ergebnis: siehe oben. Der Holländer van Veen ist ein Meister solcher Brüche. Gerade noch war das Publikum tief bewegt, hatte der singende Moralist Trauer oder Entsetzen ausgelöst. Und sofort kommt wieder ein Gag, der ernüchtert, eine witzige Geste, ein persiflierender Tanz. Weinen und Lachen liegen dicht beisammen, wie so oft im Leben. Daß Nachdenken besser mit Distanz möglich ist, wußte bereits Brecht und schrieb über seine Bühne: "Glotzt nicht so romantisch".

"Nachbar" heißt das neue Tournee-Programm des gefühlvollen Sängers, Musikers, Film-memachers, Komponisten, Liedtexters, Regisseurs, Kinderbuchautors . . . "Ich bin ein Clown", sagt van Veen. Wie schön und wie wahr. Davon konnten sich am Mittwoch und Donnerstag insgesamt fast 4000 beim Rostock-Abstecher überzeugen. Bereut haben dürfte keiner den Abend im Liederzirkus van Veen, auch wenn die Schocker und Tabu-Brecher so manchem einiges abforderten.

Etwa wenn er in diesen Zeiten des Comebacks ältlicher Rock-Opas einen solchen als Tattergreis mimt und das Publikum mit Wasser bespritzt. Auch wenn er von dem jüdischen Mädchen singt, das durch ein KZ-Trauma "anders" ist, und wie dieses Mädchen ihre Regelblutung erlebt. Oder wenn er die Geschichte vom Radrennfahrer erzählt, dem die Hämorrhoiden platzen und nach einem Sturz sich eine Speiche durch seinenden Penis bohrt.

Mal ist er derb, mal feinsinnig, mal frivol, mal hintergründig.

Er singt von den Sorgen junger Mädchen, weil deren Brüste "zu klein, zu groß, zu rund oder zu spitz" wachsen, und schreitet in Pumps über die Bühne. Er intoniert mit großer Stimme und viel Gefühl "Ich lieb' Dich" und fängt danach eine Fliege, der er die Beine ausreißt ("Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht...").

Seiner Geigenlehrerin hat Herman van Veen nach eigenem bekunden nicht nur die zweite Liebe zu verdankten ("Meine erste war Majo mit Pommes"), sondern auch die Hinwendung zu einem Instrument, das er mit faszinierender Kraft und Natürlichkeit beherrscht. Ihm ebenbürtig seine Begleitmusiker Nard Reijinders (Saxophon) und Erik von der Wurff (Klavier). Mit holländischem Charme und viel Improvisation werden da auch mal Aussetzer überspielt. Selbst wenn van Veen den Refrain des Titelsongs vergessen hat, kommt rüber: Hier waltet keine deutsche Perfektion, dafür ist aber auch nichts stereotyp und künstlich eingeübt, sondern erfrischend lebendig entsteht vieles aus der Situation neu.

Immer wieder sind es die Schwachen dieser Gesellschaft - die Huren, die Kinder, die Ausländer - denen van Veen seine Stimme gibt. So ist "Nachbar" - Titel auch der CD und Tournee - ein warmherziges, wunderschönes Lied über die "farbenreiche" Straße, in der van Veen lebt.

Und Deutschland? Für den hageren 52jährigen als Thema durchaus wichtig: Viel eindringlicher als der Text-Autor, wohl mit dem sorgenvollen Blick von außen, singt er Heinz Rudolf Kunzes "Deutsches Erwachen" ("Im Westen die Besten, im Osten die Kosten").

Zuvor hatte er schon mal, ganz ohne Musik und mit leiser Eindringlichkeit, seinen Kommentar zur Arroganz hierzulande seinem Publikum ins Gesicht gesagt: "Es gibt immer noch ein Paar Vollidioten, die glauben, daß das All deutsch ist, daß Gott aus Hamburg kommt und Heino liebt."