Andreas Hermann schreef 20 november 1997 in Adrem Zeitung

Philosophie bleibt meist nur Polemik


Herman van Veen gastiert vom 19. bis 21. November als „nachbar“ im Kulturpalast zu Dresden

Manchmal verkleidet er sich als Clown, aber eigentlich ist er – von der Berufung her – Zauberer und wird dies vom 19. bis 21. November 1997 bei seinem vierten Dresden-Gastspiel beweisen, indem er drei Kulturpalastfüllungen tagelang nachschwelgen lassen wird: Herman van Veen.

Die CD zur aktuellen Tour, „nachbar“, die vierzigste in Deutsch, soll schon ab Anfang November erhältlich sein. Im Vorfeld dieser Ereignisse stand er „ad rem“ Rede und Antwort.


Anreas Herrmann: Sie studierten Gesang, Geige und Musikpädagogik an einem Konservatorium. Wie lange?
Herman van Veen:Fünf Jahre. Bei Musik hängt die Studiendauer von den bereits vorhandenen Fähigkeiten ab. Ich wollte eigentlich Musiklehrer werden, und da reichten fünf Jahre.

In der Bundesrepublik wird versucht, die Studienzeit gesetzlich einzuschränken. Wie lange sollte man Ihrer Meinung nach studieren (dürfen)?
Ich glaube, die Studentenzeit ist in einem Menschenleben vielleicht die reichste Zeit. In der kann man soviel Wissen absorbieren – das kann eigentlich nicht lange genug dauern. Wenn man vom Gymnasium kommt, kann man doch auch noch nicht genau wissen, was und wohin man will. Ich finde, das Studium sollte so ungefähr sechs Jahre dauern, und dann sollte man noch ein Jahr in der Praxis und unter Begleitung arbeiten, ehe man richtig in die „große Menschenwelt“ geht.

Wenn Sie heute nochmal wählen könnten, was würden Sie dann studieren?
Ich denke, ich würde das gleiche machen.

Und wenn Musik ausgeklammert wäre?
Dann würde ich Arzt werden wollen.

Warum gerade Arzt?
Das interessiert mich einfach. Wie ein Mensch aufgebaut ist, beispielsweise. Das ist eigentlich ein Spiegel von der Umwelt. Ein Mensch ist nichts anderes als das All, eine Zelle ist nichts anderes als ein Planet. Es fasziniert mich, wie alles im Kleinen auch groß ist – und umgekehrt.

Man hätte eigentlich eine andere Antwort erwarten dürfen – aufgrund Ihrer Vorliebe für indische Philosophie beispielsweise …
Ich bin auch sehr praktisch, da ist Philosophie mir zu breit. Sie wird in meinen Augen nie praktisch, das bleibt immer in einer Art Polemik hängen. Und dann plaudert man – da braucht man ja acht Leben …
Ich würde lieber Arzt werden, auch um Zusammenhänge zu zeigen, beispielsweise wie dein Körper reagiert in Abhängigkeit von anderen Körpern. Oder daß Krankheiten sich immer ankündigen, genau wie ein Krieg sich immer ankündigt, oder eine Wetterkatastrophe – das beginnt mit Informationen, die wir oft ignorieren, weil wir sie nicht wahrhaben wollen.
Da sehe ich im Theater ein Mittel: Meine Dramaturgie ist immer, etwas zu singen, von dem ich subjektiv denke, daß es so passieren wird. Ich pflanze also kleine Pflanzen und zum Schluß kannst du hoffentlich etwas damit anfangen. Als damals diese Mauergeschichte noch war, hab’ ich in der DDR versucht, auf meine Art zu erklären, was eigentlich da passiert und wie ich die Zukunft sehe. Da hat man mich eigentlich kollektiv ausgelacht. Aber ein paar Monate später war es dann soweit …
Es ist oft so klar, was stattfindet in einem Körper oder in einer Gesellschaft, aber die Menschen, die sich mittendrin befinden, die können das nicht aus der Vogelperspektive sehen. Und das ist eigentlich der Grund, warum mein Beruf so unwahrscheinlich schön ist: Ich reise durch die ganze Welt und komme daher und sehe die Änderungen, die stattgefunden haben, weil ich zwei, drei Jahre nicht da war und habe dann einen objektiven Eindruck, den ich versuche, in ein Lied, einen Text und in Musik zu übersetzen. Und das hat mit meinem Wunsch, eventuell Arzt zu werden, viel zu tun.


Sie bemängeln also den Praxisbezug der Philosophie. Sollte diese als Wissenschaft denn überhaupt Vorgaben machen, bzw. wie sollte sie beschaffen sein?
Philosophie sollte Begleiter sein. Für mich ist sie ein Guide, ein Führer, der in einem bestimmten Arbeitsprozeß, im Krankenhaus oder in der Politik begleiten soll. Der einem sagt: Bum, es war damals so, dann hat man so gedacht – und wir können daraus lernen. Ein Philosoph, glaube ich, müßte eigentlich praktisch eingesetzt werden als jemand, der die Geschichte kennt, die Art von Denken versteht und dann mit diesen Modellen einen Prozeß begleiten kann, so daß man nicht die gleichen Denkfehler wiederholt. Das hat mit Bewußt-Sein zu tun. Ich hatte zum Beispiel vor kurzem in einem Gespräch mit einem Journalisten versucht zu erklären, wie wichtig die Arbeitslosigkeit in China ist …

Warum ist die Arbeitslosigkeit in China wichtig?
Die ist sowas von gewaltig, das geht in die Millionenmillionenmillionen. Wenn man die Geschichte kennt, weiß man, was mit Arbeitslosigkeit passiert, wenn diese quantitativ zu groß wird – das führt in einen Krieg. Und man sollte sich realisieren, daß diese Erde ein Dorf ist. Und wenn in irgendeinem Zimmer in diesem Dorf sich so ein Kriegsgeschwür entwickeln kann, dann sind wir alle in Gefahr. Wenn man dies weiß, kann man etwas unternehmen. Wenn man aber tut, als ob es nicht stattfindet oder als ob deine eigene Arbeitslosigkeit wichtiger ist, dann machen wir einen Fehler, den wir schon zigmal gemacht haben und von dem wir alle die Resultate kennen. Ich versuche nur zu sagen: Die Welt – das sind wir alle. Und wir haben auch Verantwortung für alle.

Gerechtigkeit war ja auch die Grundidee des Sozialismus. Ist dieser für Sie gestorben?
Nein. Ich stamme aus einer sozialistischen Familie und einem „roten Nest“ in Holland. Es ist zwar keine perfekte Form, aber die politische Idealform für mich ist trotzdem die Sozialdemokratie, in Holland wird das derzeit praktiziert. Was wir in den „sozialistischen“ Ländern hinter uns haben, ist, daß der Sozialismus mißbraucht wurde von einer Elite. Und das ist das gleiche, wie der Kapitalismus mißbraucht wird von einer Elite. Ich mag jene Form von Sozialismus ebensowenig wie diese Form von Kapitalismus. Aber ich glaube, daß wir jetzt auf einem Weg sind – auch im neuen Deutschland – wo die Sozialdemokratie eine Chance hat. Aber man hat verdammt wenig Respekt vor den brillanten Aspekten des Sozialismus, die es immer gegeben hat. Und dieser ist fast ein Fluch geworden, die Idee wird einfach wie Müll weggeworfen.
Das, was heute läuft, ist alles erklärbar und logisch, aber eine enorme Bedrohung von dem, was richtiges Glück bedeutet. Freiheit ist doch: keine Angst haben. Und Arbeit wird so hochgejubelt – das Wort „Arbeit“ schon – das wird völlig materialisiert. Arbeit sollte eigentlich das „Menschwerden von Jemandem“ sein. Arbeit sollte eigentlich ein Spaß sein, ein Entwicklungsprozeß … na Spaß ist kein gutes Wort.
Worum es geht, ist ein Superfrühstück miteinander! Und erklären, was du vorhast und was du getan hast – und dann einander erzählen und mögen und lieben.

Vielen Dank für das Gespräch!


Es fragte Andreas Herrmann



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