Braunschweiger Zeitung
Florian Arnold



"Die Welt macht die Pforte zu"

Der Poet und Liedermacher Herman van Veen gastiert Freitag in Braunschweig. Er erzählt über Tristesse und Glück des Alterns.

21 feb 2019

Herman van Veen ist mit seinen sanften, hintersinnigen Liedern und seiner Mischung aus Clownerie und Melancholie, Entertainment und Philosophie seit Jahrzehnten einer der bekanntesten niederländischen Künstler. Am Freitag ist der 73-Jährige mit seiner Band in der Braunschweiger Stadthalle zu erleben. Vorab sprach Florian Arnold mit ihm.


Der große US-Autor Philip Roth prägte den Satz: "Das Alter ist ein Massaker." Hat er Recht?
Ich verstehe, worauf er hinauswill. Aber wenn man von einem Massaker spricht, dann muss es auch Täter geben. Aber wer ist der Täter? Das Leben selber? Hat das Leben also Schuld? Und dann folgt die nächste Frage: Ist der Tod ein Ende oder ein Beginn? Manche glauben, dass er ein Anfang ist. Mich würde interessieren: Gibt es ein Ende beim Tod?

Die meisten Menschen würden sagen: selbstverständlich. Der Tod ist das Ende.
Ich glaube, dass der Tod auf bestimmte Weise ein Ende ist, biologisch aber nicht. Mein Körper zerfällt zu Staub, und der wird wieder in den Lebensprozess integriert. Dass mein Bewusstsein, meine Seele weiterlebt, glaube ich nicht - aber ich bleibe neugierig.

Trifft es zu, dass Sie an einem Buch über das Altern schreiben?
Ja, in Holland ist es gerade herausgekommen. In deutscher Übersetzung wird es Anfang Mai erscheinen: "Solange es leicht ist: Geschichten übers Älterwerden". Ich erzähle darin Geschichten über Stationen in meinem Leben, an dem ich mit dem Phänomen des Älterwerdens zu tun bekam. Es ist vor allem ein lustiges Buch - manchmal aber auch sehr ernst. Ich versuche, über schwere Dinge so schwerkraftfrei wie möglich zu erzählen.

Wann und woran haben Sie denn das erste Mal gemerkt, dass Sie altern?
Ich gebe ab und zu Unterricht an Theaterschulen. Und da hatte ich vor etwa 15 Jahren ein Aha-Erlebnis, als ich merkte, dass meine Studenten die großen holländischen Schauspieler aus den 50er und 60er Jahren überhaupt nicht mehr kannten. Die Großen dieser Tage waren aber der Grund, 'i weshalb ich selbst auf die Bühne wollte. So schnell geht das. Da fühlte ich mich ein bisschen verloren. Verwest sagen wir auf hollandisch.

Haben Sie Sorge, dass Ihr Ruhm ähnlich vergänglich sein wird?
Ich denke, das ist unvermeidlich. Die Zeit ist vergesslich, und unsere besonders. Eines unserer größten Probleme ist, dass die Erfahrungen und das Wissen älterer Leute viel zu wenig abgerufen werden. Ich habe gerade gelesen, dass Wissenschaftler entlang der japanischen Küste um Fukushima zahlreiche Hinweise darauf gefunden haben, dass man schon im 15. Jahrhundert wusste, dass man in diesem Gebiet nicht so nahe am Meer bauen sollte. Das ist doch bemer-kenswert! Die Vergangenheit wiederholt sich immer anders, klar, aber es gibt so viel daraus zu lernen. Wenn man Geschichte nicht gründlich genug unterrichtet, müssen wir alle möglichen Schwierigkeiten erneut durchstehen, die wir hätten voraussehen können.

Was halten Sie von dem Satz: Alter ist die Abwesenheit von Zukunft.
Eine Passage in meinem Programm lautet wie folgt: Älterwerden geht von selbst, und auch von selbst vorüber. Es passiert dir. Es liegt in der Familie. Du hast nichts daran mitgewollt. Du hast keine Wahl. Oder daran Schuld. Man vergeht. Und steht daneben. Älterwerden tust du zum ersten Mal. Es ist frisch und neu. Vor dir macht eine Welt die Pforten zu.

Das ist ein harter Schlusssatz.
Ja. Es ist nicht anders.

Wie soll man damit umgehen?
Ein schöner Aspekt am Altem ist: Man erinnert sich plötzlich viel intensiver. Und das öffnet eine Tür zu einer anderen Welt. So geht es mir persönlich zumindest. Mehr und mehr Erlebnisse, die ich völlig vergessen hatte aus meiner Kindheit und Jugend, kommen in kleinsten Details und sozusagen in HD-Qualität wieder hoch. Das ist sehr trostreich.
Vor 19 Jahren habe ich meine Eltern verloren. Wir waren sehr nah miteinander. Früher habe ich bei Problemen gerne Vater oder Mutter gefragt: Wie seid ihr damit umgegangen? Das ging nun nicht mehr. Ich war fünf Jahre ein wenig blockiert. Bis plötzlich das Glück der Erinnerungen kam. Ich habe mir nie vorstellen können, wie schön das ist, dass Begegnungen mit den eigenen Kindern oder Enkeln Türen öffnen zu Erinnerungen, die unglaublich scharf sind. Man muss aufpassen, dass man nicht seinen Stuhl auf den Balkon stellt und nur noch zurückschaut.

Aber man macht ja auch Fehler im Leben. Es wäre doch denkbar, dass auch traurige Erinnerungen einen plötzlich sehr intensiv bedrängen. Vor allem, wenn man einsam ist. Einsamkeit ist ein großes Problem. Wir haben in der Nähe meines Wohnortes Soest in Holland ein Kulturzentrum gegründet. Wir organisieren rund 140
Gastspiele im Jahr in einem schönen kleinen Theater. Unser Publikum besteht vor allem aus Kindern, Studenten - und Greisen. Niemand zahlt Eintritt. Die Leute, die auftreten, spielen ohne Gage, meist junge Künstler oder Greise wie ich. Und was ich dort beobachtet habe, ist, wie unglaublich viel Einsamkeit es gibt in unserer Gesellschaft. Viele ältere Menschen leben sehr isoliert. Unser Zentrum ist ein Segen für sie. Es gibt enorm viel zu tun in dieser Hinsicht.

Ist es nicht so, dass Lebensglück sehr viel mit Zukunftserwartungen zu tun hat? Mit Vorhaben, auf die man sich freut? Und dass aber die Zukunft im Alter schmaler wird?
Ja, ein Mensch braucht Ideen und Pläne. Sie sind der Grund, warum du überhaupt aufstehst und deine Zähne putzt. Solange du gesund bist und eine dynamische Umgebung hast, ist das unheimlich motivierend. Wenn ich ein Konzert gespielt habe, will ich am liebsten gleich noch eines spielen. Denn ich lerne an jedem Abend so viel und entwickele Ideen, was man anders machen könnte,

dass ich sie am liebsten gleich umsetzen würde. Kennen Sie keine Phasen, in denen die Kreativität stockt?
Doch. Vor allem, wenn man Menschen verliert. Ich habe Jahre mit einem Gitarristen gespielt, der Multiple Sklerose hatte. Eine fiese Krankheit. Wir haben dann kollektiv immer langsamer gespielt. Ich habe noch nie so viele Moll-Vörstel- lungen gespielt wie in jener Zeit. Oder mein Freund und Pianist Erik van der Wurff, der vor vier Jahren gestorben ist. Ich habe 52 Jahre mit ihm zusammengespielt! Die letzten zwei, drei waren sehr, sehr schwer.

Weil Sie wussten, dass er krank ist.
Ja, natürlich. Manchmal saß er da, und wir wussten nicht, wird er auf die Bühne kommen, wird er spielen können? Damit muss man umgehen. Man kann nicht sagen: Wir spielen nicht. Das waren nicht dje fröhlichsten Vorstellungen, kann ich Ihnen sagen.

Aber Sie wollten ihn nicht allein lassen, und er wollte dabeibleiben?
Ja! Wir haben zusammen studiert, wir waren wie Yin und Yang. Da kann man nicht einfach sagen, ich miete mir jetzt einen jungen, frischen Pianisten, wenn man so lange mit so einem lieben Schatz zusammengespielt hat.

Ich weiß nicht, ob ich je wieder mit einem Pianisten auftrete.
Dafür ist es noch zu früh.



Florian Arnold