Die Welt
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Eine Handbewegung , ein Wimperschlag

12 okt 2019

Er kann mit einer Handbewegung den Mond anfangen und ihmn sich in die Tasche stecken stecken oder gebannt von einem unsichtbaren Schmetterling dessen Flugroutec nach vollziehen. Solcherlei Bilder schießen einem zumindest durch den Kopf,wenn Herman van Veen pantomimisch einer dieser flüchtigen Poesiemcnte heraufbeschwört, die seine Auftritte so besonders machen.


Und das seit nun mehr 50 Jahren. Solange ist es her, dass der Musiker sein Debütalhum in seiner niederländischen Heimat veröffentlichte. Nur wenige Jahre später entdeckte man ihn auch in Deutschland. Seither ist van Veen der Deutschen liebstes Kind, was beim BegrUßungsjubel im Großen Saul der Laeishalle kaum zu überhören ist, wo der 74-Jährige Im Rahmen seiner Jubiläumstour an drei Abenden „Neue Saiten“ aufzieht. So heißt sein im Februar erschienenes Album. Es ist - bitte festhalten! - in der Reihe von van Veens Tonträgerveröffentlichungen die Nummer 188! Bei solch enormer Produktivität ist der Generalverdacht künstlerischer Abnutzungserscheinungen nicht leichtfertig vom Tisch zu fegen. Und doch: Van Veen widerlegt ihn quasi mit einem Wimpernschlag.

Das hat schon „Was fast verrücktes“, wie eines von den neuen Liedern heißt, mit dem der Sänger das Absonderliche in der scheinbaren Normalität des Alltags aufspürt: im Nicht-vergessen-Können, in der Sammelleidenschaft, im Sprechen mit einem Haustier. In „Schreib mir“ erhebt van Veen ebenso das Banale zum Besonderen, und man hört auch deshalb gerne zu, weil die musikalischen Bühnenarrangements vieles in den Schatten stellen, was auf der zugehörigen CD allzu sterile Studioluft atmet.
Dass auf der Bühne die Instrumentenvielfalt und das wache Miteinander im Vordergrund stehen, ist auch das Verdienst von vier Musikern, die van Veens Idee eines Gesamtkunstwerks aus Liedern, Instrumentalstücken, vorgetragenen Texten, Tanzeinlagen und kurzen Spielszenen in jeder Sekunde mittragen. Wo eine Nummer aufhört und die nächste anfängt - man kann es oft gar nicht sagen: Kaum hat van Veen theatralisch den Staub von seiner Geige gepustet, da finden die Musiker in der weißen Wolke zu einem kecken Folklore-Ritt zusammen, aus dem heraus Geigerin Jannemien Cnossen plötzlich mitten in der Meditation „Fratres“ des estnischen Seelenbalsam-Komponisten Arvo Part landet. Die roten Pumps, die Cnossen zwecks tänzerischer Freiheit zuvor ausgezogen hat, spießt van Veen nun mit seinem Geigenbogen auf und erinnert sich, wie er einst „ein Paar etwas anders rote, nämlich grüne Schuhe“ aus einer Gracht geangelt hat und sich vorstellte, es könnten die seiner Tochter seih. Der Erzähler selbst war zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt.

Es ist nicht die einzige (wahre oder erfundene?) Erinnerung an alte Zeiten, mit der der Sänger meist auf komische, manchmal auch auf nachdenkliche Pointen zusteuert. Mal findet ein verzweifelter Junge am Strand seine Mutter nicht wieder, die er zum Spaß eingegraben hat. Mal führt das allzu reichhal- tige Weihnachtsessen zu einem bcunru lügenden ärztlichen Befund („Mit Ih rem Darm könnten Sie einen Fahrrad reifen aufpumpen!“), dann wieder wird aus der „Fan Post“ in zweiter Generation zitiert: „Sehr geehrter Herr van Veen, wir sind widerwillig mit Ihren Liedern aufgewachsen..." ln der Laeiszhalle lauscht man indes mit Genuss, wenn Edith Leerkes mit ihrer Konzertgitarre eine grazile Begleitung oder im Alleingang eine leidenschaftliche neapolitanische Kanzone anstimmt. Auch Wieke Garcia hat fein gesponnenes Klangkolorit im Angebot, wenn sie an ihrer Harfe sitzt, beweist am Schlagzeug und an den Gongas aber auch Rhythmussicherheit, derweil die drei Frauen nicht nur gemeinsam, nun dem auch als SolosHngerlnnen llne Qualitäten unter Beweis stellen. Als Prügelknabe des Abends muss indes Bassist Kees Dijkstra herhalten, der der mehrmals musikalisch aus der Reihe tanzt.
Als er bei einer Klatschübung einen Schlag zu viel macht, wird er vom Rangältesten nicht nur mit bösem Blick abgestraft, sondern muss eine Strafpredigt über sich ergehen lassen - alles nur Spaß natürlich. Und zwar einer, bei dem van Veen mit seinem cholerischen Kauderwelsch dem Publikum die Lachtränen in die Augen treibt. Gleiches gilt für seine Persiflage auf Gepflogenheiten von Opernsängern. Wie der begnadete Clown und Entertainer hier eine Sterbeszene in den verschiedenen Stimmfächern und zuletzt gar im chorischen Frage-Antwort-Spiel arios überdehnt und theatralisch ausschlachtet - das ist kaum zu überbieten.

Neu ist diese Szene allerdings ebenso wenig wie die Klaviernummer, in der van Veen das Instrument mit Händen und Füßen traktiert, um zuletzt die imaginären Tastenreste zusammenzufegen und ins Publikum zu werfen. Aber Wiedersehen- und hören macht eben auch Freude. So darf man mit dem Van-Veen-Evergreen „Anne“ noch einmal darüber nachsinnen, wie schnell Kinder doch erwachsen werden, stellt sich der Sänger auch diesmal wieder die Frage „Warum bin ich so fröhlich?“, um beim Rock-’n’-Roll-Klassiker „Tutti Frutti“ eine flotte Socke aufs Parkett zu legen.

Vor den Zugaben lassen die Musiker noch sechs große Trommeln im Stil japanischer Taikos knallen und man ist dankbar, dass es neben dem großen Rums so viele feine Zwischentöne gab.



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