Suddeutsche Zeitung
MICHAEL ZIRNSTEIN



Konstant sprunghaft

11 apr 2019

Er hat bestimmt nichts gegen die klassische Musik, und dennoch nahm Herman van Veen die ergrauende Szene bei den ersten Auftritten • seiner „Neue Saiten“-Tour auf die Schippe. Da mimte der Konservatoriumsabsolvent eine greise Pianistin, die noch nicht ins Gras, wohl aber arg gebeugt in die Tasten biss. Und auch in der Persiflage einer Sopranistin im immergleichen Duett mit dem Heldentenor kommt er zu dem Schluss: „Wie schön könnte Oper sein, wenn es keine Sänger gäbe.“ Dem Utrechter „Clown mit Halbglatze“ verzeiht man derlei Schelmenstücke. Weil er eben die Klassik eigentlich schätzt und hochhält - ja, er führt seine Kunst, seine kleinen Alltagserlebnisse in einen größeren ästhetischen Zusammenhang zu bringen, gar auf Johann Sebastian Bachs Kontrapunkt zurück.


Das wiederum mag anmaßend klingen, aber van Veens Opus ist imposant wie das der alten Meister, schon zahlenmäßig: Sage und schreibe 184 CDs hat der Universalkünstler in 54 Karrierejahren veröffentlicht, dazu 26 DVDs und mehr als 70 Bücher, zu seinen Gemälden gibt es keine verlässlichen Angaben.

Und der 74-Jährige ist noch längst nicht fertig. Nach dem großen Auferstehungsalbum „Fallen oder springen“ von 2016 mit einem verjüngten Ensemble (sein treuer Pianist und Wegbegleiter Erik van der Wurff war kurz zuvor gestorben), ist „Neue Saiten“ schon wieder so eine Frischzellenkur der Liedermacherei.
Wo er über „Pommes“ und eine „Sofagarnitur“ singt (man hört gar den Autotune-Effekt herausorgeln), meint er doch die Abwesenheit der Liebe und die Gleichgültigkeit der Menschen in emotionskalter, gleichwohl überhitzter Zeit: „Im Fernsehen läuft Terror, der so aussieht wie im Kino...“ Als Gefühlsmensch sei er ein Auslauf modell, sagt der Feinfühlige, da erlaubt er sich, auf der Bühne zu spielen, was er will, täglich auch etwas anderes.

Das ist wohl der größte Unterschied zum üblichen Klassikprogramm.



MICHAEL ZIRNSTEIN