Mattias Zwarg schrieb am 19.03.01 in Freie Presse - Chemnitz

Trauriges Märchen vom wunderbaren Leben



Chemnitz.
Es war einmal, am Samstag Abend in der Stadthalle Chemnitz, ein Mann, der hatte eine wunderbare Gabe: Er konnte das Leben besingen. Gar nicht mal in besonderen Worten. Seinen Liedern fehlten die schönen Bilder, treffenden Vergleiche, konstruktiven Botschaften, klaren Aufforderungen, die Provokation. Dafür hatten sie etwas anderes: Sie klangen aufrichtig und wahr.
Der Mann heißt Herman van Veen und er wird begleitet von, einem phantastischen Kammerorchester. Gemeinsam unternehmen van Veen und seine Gruppe eine Reise durch das Leben, ein Leben voller Wunder, voller schöner, schauriger, schrecklicher, lächerlicher Geschichten. Sie treffen Frans, der auch schon tot ist - „das hoffe ich jedenfalls ... denn sie haben ihn gestern begraben". Sie treffen den Rabbi und seinen Fahrer, die die Rollen tauschen, machen in, der Oper beim Heldentenor auf dem Ego-Trip und im Badehaus bei singenden Schmutzfinken und dem Anblick des väterlichen Pimmels" Station. Sie treffen die Sozialsexualtherapeutin Tante Leonie und den Clown, der weint, weil er seinen Haftbefehl nicht lesen kann, und natürlich van Veens Mutter und Vater, die ihn schon durch viele Konzerte begleitet haben.

Sie stehen Jann bei, die ihre Bluse nicht öffnen will, obwohl das so im Text steht und das MDR-Fernsehen da ist, das man auch in Holland empfangen kann. Und sie sind auf ihrer musikalischen Reise überall zu Hause: im jüdischen Viertel, in Amsterdam-Süd, in südamerikanischer Folklore oder mitteleuropäischer Klassik, im Jazz und im Blues und irgendwo dazwischen, in den leisen Tönen ebenso wie in stimmgewaltigen Ausbrüchen.
Die Szene wechselt zwischen Zirkus und Gottesdienst, zwischen Beschwörung und Beschreibung, zwischen Leben und Tod, übergangslos, unaufhaltsam Selbst, wer seine Lieder manchmal als sentimental empfinden mag, wird ihm Aufrichtigkeit zugestehen müssen. Barfuß in seinen Schuhen geht van Veen durch dieses Leben, als wolle er sagen: Wir sind diesem Wunder schutzlos ausgeliefert, wenn wir uns nicht selber schützen, wenn wir uns nicht selber helfen. Wenn wir nicht versuchen zu verstehen, was Menschen geschehen kann, wie sie leiden, worüber sie sich freuen, wenn wir nicht begreifen, wie wir Menschen einen Freude machen können, wenn wir uns nicht Zeit nehmen füreinander.

Auch die Zeit, einfach zu bitten für den Nächsten und den Fernsten: „Kyrie Eleison - Herr erbarme dich", was klingt, als wäre es nicht viel, obwohl es manchmal schon ein Wunder ist, wenn jemand auf unser Leben nicht mit dem Blick des Selbstgerechten sondern barmherzig blickt.
Herman van Veen nimmt sich Zeit für sein Publikum, darunter der 14-Millionste Stadthallen-Gast, die junge Maria Martin, die ein besonderes Konzert erleben darf. Nach minutenlangem, stehenden Applaus der 1700 Besucher im ausverkauften Großen Saal der Stadthalle singt er eine Zugabe nach der anderen.

Als seine Techniker schon die Dekoration abbauen und ein paar hundert Gäste gegangen sind, singt er noch immer, ein Lied von damals, eines, das er noch in Karl-Marx-Stadt gesungen hatte. Es gelingt nicht ganz; zu lange nicht mehr gesungen von der Beharrlichkeit, die Grenzen überwindet. Aber es ist wie ein Versprechen: Wir haben uns gesucht und gefunden, ein wunderbares Publikum, ein wunderbarer Sänger. Das macht das Leben auch ein wenig wunderbar. Wie ein Märchen, schaurig-schön, ein langer Atemzug, von dem mancher irgendwann erzählen wird: -Es war einmal...



Matthias Zwarg





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