Danuta Görnandt schreef 18 januari 2002 in Neues Deutschland

Drei und drei ist sechs – nein, das wäre zu einfach

Herman van Veen über seine Musik, Tannenbäume und Schneeflocken



Er hat Gesang, Geige und Musikpädagogik am Utrechter Konservatorium studiert und seit Jahren singt er auch und spielt mitunter Geige, vor allem aber ist er ein grandioser Unterhalter – Herman van Veen. Der Holländer gastiert in diesen Tagen in Berlin mit seinem aktuellen Programm »Was ich dir singen wollte«. Sieben ausverkaufte Konzert im Berliner Friedrichstadtpalast mit jeweils fast nicht endenden Zugabenteilen belegen, dass van Veen ein Künstler ist, den sein Publikum liebt und braucht und das seit Jahren. Danuta Görnandt hat mit Herman van Veen gesprochen.

ND: Auf dem Plakat zu Ihrer derzeitigen Tour, auch auf der CD, haben Sie eine Geige vors Gesicht gebunden. Eine mehrdeutige Botschaft. Wen man Sie hört, spürt man aber sofort, dass die Geige durchaus artgerecht im Einsatz ist. Und dass mit sehr viel Spaß musiziert wird. Ich habe den Eindruck. Ist die Musik für Sie wichtiger geworden ist, als sie es vielleicht noch vor ein paar Jahren war?
Das stimmt. Vor drei Jahren habe ich ja mal mit dem Rosenberg-Trio gespielt. Mit denen wollte ich damals unbedingt Musik zusammen machen. Als ich sie hörte, war ich gerührt und begeistert. Drei ganz fantastische Zigeunermusiker. Und ich merkte damals auch: Wenn kein Bläser dabei ist, verändert das total den Charakter der Musik. Wir haben mit zwei Geigen, Gitarren und Bässen gespielt. Alles Saiteninstrumente, die wunderschön zusammenpassen. In dieser Kombination zu spielen, war für mich ein musikalischer Einschnitt. Nach unserer Welttournee haben Edith Leekers und ich diese Idee weiterentwickelt. Erik van der Wurff ist jetzt wieder dabei, Edith natürlich weiterhin und vier junge Musiker.

ND: Die glorreichen Sieben auf der Bühne.
Ja, das macht unheimlich Spaß und ist sehr inspirierend. Durch Jannemien Cnossen, die bei uns Geige spielt, habe ich schließlich auch wieder Freude am Geigespielen entwickelt.

ND: Die vielen gemeinsamen Jahre mit Ihren Begleitern Erik van der Wurff und Nard Reijnders haben also quasi den Herman-van-Veen-Klang geprägt, der schon als klassisch gelten kann. Waren Sie bewusst auf der Suche nach einem musikalischen Konzept?
Als ich noch Student war, hatten wir eine Gruppe, die hieß OMEGA. Wir wollten eigentlich europäische Volkslieder spielen, Volksmusik interpretieren. Aber dann fing ich an, mit eigenen Texten zu arbeiten. Und so wurde ich, der ich bin. Jetzt komme ich manchmal wieder zurück auf Sujets, mit denen ich damals schon beschäftigt war. Ich mache mitteleuropäische Musik. Europa ist mein Zuhause. Es sind die Klänge, die bei uns zu Hause und in unserer Straße zu hören waren, die ich aufgreife und verarbeite. Dazu gehört auch die Zigeunermusik. Ich bin ja nicht umsonst Geiger geworden. Ich hatte mich in diese Musik verliebt und bin jetzt heilfroh, dass ich mittlerweile meine eigene Art gefunden habe.

ND: Zur Freude vieler Zuhörer haben Sie einige ältere Lieder wieder ins Programm genommen.
Das ist auch für mich ein bisschen wie eine Reise in meine Vergangenheit. Diese Reise gefällt mir. Weil ich auch merke: Ich hab mich nicht verändert. Natürlich, ich bin viel rumgekommen, habe ich viel gesehen, viel gelernt, viel erfahren. Aber ich bin immer noch der, der ich war und sein wollte. Ich glaube, ich habe etwas von einem Troubadour an mir. Ein Mann der seit fast 40 Jahren unterwegs ist und singt und erzählt, was ihm ans Herze geht. Das ist doch toll, so leben zu dürfen. Und da fällt es mir leichter, ein Stück aus der Vergangenheit mit auszupacken. Ich gestehe, ich dachte nicht immer so. Früher jagte ich immer dem Neuen und Unbekannten hinterher, wollte immer anders sein als ich bin. Bis ich dann merkte: Einerseits ist dies unmöglich durchzuhalten, andererseits verliert man während dieser Hatz und Unruhe schnell Freunde und Familie. Da habe ich mir gesagt: Stopp. Einhalten und Nachdenken über sich selbst. Einmal stillstehen.

ND: Hoffentlich ist das musikalisch nicht so endgültig gemeint.
Nein, das heiißt nicht, dass ich nicht mehr neue Dinge ausprobieren, neue Lieder schreiben und intonieren will. Aber im Alter wird man weiser. Wenn ich früher in eine Vorstellung ging, da wollte ich die Leute überraschen, immer mit etwas sensationell Neuem. Ich denke heute auch mehr über versäumte Gelegenheiten nach. 1967 sah ich diese Frau auf der Brücke und habe ein Lied für sie geschrieben – für sie, in diesem Moment. Warum, frage ich mich heute, hast du es dieser Dame nie erzählt?

ND: Trotz aller Veränderungen, über die Sie berichten, zeichnet Sie doch eine große Stetigkeit aus. Für alle, die Sie kennen, sind Sie der der verlässliche, bekannte und vertraute van Veen. Wer Herman van Veen will, bekommt auch wirklich Herman van Veen. Also muss es da doch eine ewige, die immer gleiche Quelle geben, aus der Sie schöpfen? Was ist Ihr Zentrum?
Wir hatten gestern Nacht in der Bar ein Gespräch über Religion. Einer fragte mich: Glaubst du an Gott? Ich glaub nicht an Gott, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich an Nichts glaube. Ich habe eine Idee, für die und nach der ich lebe.

ND: Und die wäre?
Ich möchte versuchen, es so zu erklären: Wenn man einen Tannenbaum sieht, nimmt man zuerst den Baum an sich wahr. Tritt man näher heran, sieht man die Nadeln. Geht man einen Schritt nach hinten, sieht man den Zweig. Und entfernt man sich wieder weiter weg vom Objekt der Betrachtung, sieht man wieder den Weihnachtsbaum. Mehrere hundert Meter Abstand schließlich ermöglichen einen Blick auf den Wald. Dieses Gedankenspiel kann man weiterführen – bis hin zur Perspektive auf unser ganzes Universum. Je größer dein Abstand ist, desto größer ist deine Perspektive. Ich weiß, dass ich ein winziges Teil bin von dem ganzen Großen. Meine Rolle ist klein, mein Einfluss ist winzig. Aber diese kleine Welt, dieser winzige Ausschnitt, über den ich verfüge, ist für mich wahnsinnig wichtig. Oder, um dies an einem anderen Bild zu verdeutlichen. Ich sehe mich manchmal als Schneeflocke, vielleicht am Nordpol. Ich weiß, dass es diese Schneeflocke eines Tages nicht mehr gibt, aber eine Zeit lang bin ich Teil des gigantischen Schiebens vom Eis, der gigantischen Welt in weiß. Ich bin ein Kristiall und zugleich auch der Kosmos. Ich halte jeden Menschen für unwahrscheinlich wichtig, jeder gehört zu dem Kosmos, dessen Teil auch ich bin. Und da ist es auch nur natürlich, dass wir uns gegenseitig Respekt entgegenbringen.

ND: Das sind wirklich schöne poetische Bilder, die aber dennoch viele Fragezeichen hinterlassen...
So sollte es auch sein. Es herrscht viel Dummheit auf der Welt. Weil die Menschen keine Fragen mehr haben. Dummheit schaft Angst. Unter den Menschen ist unwahrscheinlich viel Angst. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber. Banken und Versicherungsgesellschaften freilich profitieren von der Angst. Wir versichern uns heute vor allem möglichen, was uns eventuell zustoßen könnte. Und machen damit diese Firmen reich und reicher. Bei uns in Holland sind die Versicherungsgesellschaften die kräftigste finanzielle Gruppe der Gesellschaft. Die leben von den Geschäften mit unserer Angst. Natürlich habe ich auch Angst – vor Krankheiten, vor Schmerzen, vor dem Moment des Todes. Manchmal habe ich auch Angst, auf die Bühne zu gehen. Und ich hab Angst, von meinen Ängsten zu erzählen. Aber das Publikum bestätigt mich darin. Wir bestätigen uns, dass wir auf der Suche sind. Was wir suchen, wissen wir nicht immer so genau. Aber wir sind sicher, dass es was Wunderschönes sein muss.

ND: Lassen Sie uns noch bei der Angst bleiben. Viele Ihrer neuen Lieder sind jetzt noch persönlicher als sie es jemals waren. So mein Eindruck. Ist da nicht ein Widerspruch – die Welt wird immer globaler, die Probleme größer und komplizierter, aber Sie erzählen einfach, wie es Ihnen geht, was für Sie wichtig ist?
Warum auch nicht. Charlie Chaplin hat sich einmal an einem Wettkampf von Chaplin-Imitatoren beteiligt. Er wurde Sechster. Dass er diese Anekdote preisgab, gehört zu seiner Art, die ihn so liebenswürdig macht. Und da komme ich auf das Wort »imaginäre Realität«. Mehr und mehr leben wir in einer imaginären Realität. Wir leben in den Geschichten, die wir im Fernsehen oder im Kino sehen, wir identifizieren uns damit. Wir leben immer mehr in virtuellen Welten. Jedenfalls viele von uns. Ich persönlich brauche das Fernsehen nicht unbedingt. Ich brauche nur unwahrscheinlich viel Kaffee und Zucker. Und mein Zuhause. Und die vielen kleinen Dinge, mit denen man sich gern umgibt. Warum das Beispiel mit Chaplin? Es gibt viele Menschen, die nicht aussehen, nicht so plaudern oder sich eben nicht so verhalten wie in den Filmen. Und da werden sie nicht mehr erkannt. Ich hab mal einen sehr schönen französischen Film gesehen von drei Herren, die alle einen so schönen Schwanz hatten – Haarschwanz. Sie arbeiteten alle in einer Firma, deren Chef so einen Zopf hatte. Eine brillante Darstellung war das. Bei meinen Reisen durch Deutschland bemerkte ich auch so etwas wie eine neue Uniform. Viele sehen gleich aus. Für mich ist es wichtig, ich zu bleiben. In keine Uniform zu schlüpfen. Ich wünschte mir, alle Menschen hätten diesen Wunsch. Ich war in dieser Hinsicht schon als Schüler eigen. Drei und drei ist sechs. Ja, was denn drei und drei, war meine Frage. Drei Häuser, drei Bäume, drei Äpfel oder was? Und da bekam ich Krach in der Klasse. Ich habe den Unterricht gesprengt. Ich weiß, genau das macht mein Leben so kompliziert. Alle denken: Dieser Typ läuft nicht ganz richtig. Als ich Abschlussexamen machen musste an dieser Schule, führte der Direktor der Schule mich so ein: Meine Herren, sagte er, dieser junge Mann heißt Herman van Veen, der weiß vielleicht nicht, wie viele Früchte auf einer Schale liegen, aber er kann Sie zwei Stunden gut damit unterhalten, wie rot die Tomaten sind.

ND: Das war ein Mann mit großem Weitblick...
Na ja, damals war ich wütend und empfand seine Worte als Beleidigung. Jetzt, mit meinen fast 57 Jahren, weiß ich, dass dies ein großes Kompliment war. Er hat ja nichts anderes gesagt als: Hier ist ein Mensch mit Interesse für‘s Detail. Der ist nicht einverstanden mit Sieben, der will wissen: Sieben was. Nur so kann er Sieben akzeptieren. Das ist übrigens meine Quelle, mein Zentrum, nach dem Sie gefragt haben. Ich bin beschäftigt mit den Details. Deshalb haben wir über die Nadel vom Tannenbaum und die Schneeflocke gesprochen. Es geht um Details. Wenn ich auf die Bühne gehe, geht es um den ersten Schritt, nicht um den zweiten. Nur wenn ich den ersten Schritt packe, hab ich Chancen auf den zweiten. Wir haben eine Chance, wenn wir nicht nur auf das ferne Ziel fixiert sind. Es geht um den nächsten Atemzug, der zählt. Und wenn Du den gut nimmst, hast Du eine Chance auf einen Kuss. Die Leser verstehen jetzt vielleicht, was der Lehrer gemeint hat mit der roten Tomate...



Fragen: Danuta Görnandt