MusikWoche.de
Manfred Gillig-Degrave

Fallen oder Springen

1 feb 2016

Man kann das, was Herman van Veen macht, altmodisch finden. Man kann den "jungen Mann mit viel Erfahrung", wie er sich selbst im MusikWoche-Interview anlässlich seines 65. Geburtstags nannte, aber auch als unverwechselbaren, einmaligen Künstler sehen, der sich jeglicher Kategorisierung entzieht und keinem kurzlebigen Trend andient - und der gerade deshalb heute noch genauso aktuell, ehrlich und wichtig ist wie vor 30 oder 40 Jahren.


Im März 2016 feiert van Veen seinen 71. Geburtstag; 1965, also vor bald 51 Jahren, stand er zum ersten Mal mit einem Soloprogramm auf der Bühne. Die Promotion weist darauf hin, dass "Fallen oder Springen" sein mittlerweile 179. Album ist - und man denkt: Wow, Fließbandproduktion, dreieinhalb Alben im Jahr ...

Umso bemerkenswerter, dass der junge Mann mit viel Erfahrung trotzdem noch - beziehungsweise schon wieder und wieder einmal - ein sanftes, sensibles Meisterwerk vorlegt. Mit den 14 Songs auf "Fallen oder Springen" entfaltet sich die ganze Palette seiner Kunst, die ohne großen Gestus alles andere als klein ist: vom flotten Opener "Offenes Geheimnis", mit dem er den Schwund des Privaten im Internetzeitalter reflektiert, über "Alles macht was aus", eine leichtfüßige Hymne an die kleinen Dinge des Lebens, in der ein Gitarrensolo mit Soukous-Flair sonnige Tupfer setzt, bis hin zum Titelsong, der zum Schluss ein Fazit des gesamten Albums zieht.
Zwischendurch finden sich unter anderem drei Lieder, die sich mit Depression und Einsamkeit beschäftigen, ein Stück über Kindesmissbrauch ("Die unbekannten Kinder"), eine Erinnerung an van Veens Großmutter ("Oma sagt") und ein Kommentar zu religiösen Repressionen ("Mein Herr").

"Fallen oder Springen" ist in musikalischer Hinsicht ebenso wie in den Texten sicher eine der besten Produktionen aus van Veens wahrlich umfangreichem Schaffen.
Die holländische Version trägt übrigens den Titel "Kersvers", was soviel heißt wie "taufrisch" oder "frischgebacken". Das kommt hin.



Manfred Gillig-Degrave