Henri van der Steen schreef 14 april 2001 in de SZ

Sieben Wochen Ostdeutschland



Gedankensplitter eines holländischen Journalisten auf Arbeitsbesuch in Dresden: Was ist das denn hier für ein merkwürdiger Bürgerkrieg?


Helga aus Frankfurt am Main hat acht Stunden im Auto gesessen, um Herman van Veen zu sehen. Die 52-Jährige ist von Kopf bis Fuß auf den niederländischen Sänger eingestellt, sagt sie. Außerdem kann sie endlich mal Dresden besuchen. Doch die Stadt enttäuscht sie ein wenig; sie hatte erwartet, dass schon mehr renoviert wäre. Helga sieht noch viel DDR in Dresden. So wie ich auch. - Gehören wir zu den Hochnäsigen? Fast sieben Wochen habe ich die deutsch-deutsche Sprachlosigkeit studiert, und das Wort hochnäsig dabei ziemlich oft gehört. Oft werden noch weitaus unschönere Worte gesprochen. Wessis und Ossis dichten einander öfters äußerst hässliche, dumme, niederträchtige Dinge an. Was ist das denn hier für ein merkwürdiger Bürgerkrieg? Die Aussichten für den Osten sind dramatisch, so sagt mir jeder. Ostdeutsche vergleichen ihre Situation dabei gerne mit Westdeutschland und sind wegen der finanziellen Abhängigkeit unzufrieden. Kaum einer zeigt sich optimistisch.

Ich trinke Kaffee mit Manfred Breschke, und der Künstler sagt: "Unsere Kabarett-Häuser sind voll. Früher wegen der Kritik am Staat, jetzt, weil wir DDR-Zeiten wieder erleben lassen. Das ist ein Widerspruch, oder?" Fremd ist die Tatsache, dass viele Ossis mich beschwören, dass es in DDR-Zeiten so schlimm nicht war. ("Wir konnten bloß nicht reisen.") Ich war in DDR-Zeiten aber auch schon mal hier; da habe ich nicht bemerkt, dass die Leute so zufrieden waren P

In der Dresdner Neustadt begegne ich Oliver, einem jungen Mannheimer, der vor zwei Jahren hierher kam, um einen Spezialitätenladen zu eröffnen. "Ich dachte, ich komme zur rechten Zeit, zehn Jahre nach der Wende. Aber ich bin noch zu früh gewesen. Die Ostdeutschen kommen nicht in meinen Laden. Die hören unmittelbar, woher ich komme. Und meine Waren wollen sie sowieso nicht." Eigentlich findet er Ossis bloß doof.

Auf dem Markt in einem Städtchen in der Sächsischen Schweiz kaufe ich eine Jacke bei einem farbigen Asiaten. "Die Leute sehen mich immer an als ob ich meine Sachen geklaut habe", sagt der Geschäftsmann. Rassenhass und Ausländerfeindlichkeit sind Phänomene, die man nicht jeden Tag mit bloßem Auge sieht. Die Medien berichten regelmäßig über das Thema. Barbara Becker möchte als Schauspielerin gern eine Dame spielen, sagt aber im "Stern": "Das ist ein Problem bei Frauen mit mokkafarbiger Haut, die sind in Deutschland sehr schwer als Dame zu besetzen." Spiegel-TV zeigt einen unverständlichen Glatzkopf, der versucht, etwas über Rechtsextremismus zu sagen. Gedreht wird in einem Sportladen, wo die Kamera auch Baseball-Keulen näher heranholt. Sie haben Aufkleber: Dies ist ein Sportgerät. Ich höre aber ständig die gleichen Reaktionen, wenn's um Ausländerfeindlichkeit geht: Völlig übertrieben! Stimmt gar nicht! Blödsinn! - Gute Nachrichten gibt es inzwischen auch. Obi, ein freier Englischlehrer, arbeitet in rund zehn Kindergärten in Eberswalde und Bad Freienwalde, und die Liste wächst. Der Nigerianer sagt: "Die Eltern bezahlen pro Jahr 400 Mark extra für mich. Sie hoffen, dass ihre Kinder nicht als Rassisten aufwachsen, wenn sie einen afrikanischen Lehrer hatten." Wird der Rechtsextremismus übertrieben?

Die Sache mit den IM und der Stasi wird sicherlich übertrieben. Meinen viele Einheimische. Schluss mit der Debatte! MDR-Intendant Reiter sagt in der SZ: "Acht von zehn Zuschauern wollen einen Strich unter der Affäre." Acht von zehn Zuschauern oder acht von zehn Briefschreibern? - Ich besuche Gitta Cyriax. Sie ist die ehemalige Frau von IM Klaus Ihle, der Mann der - so die Akten - die Dresdner Fußballspieler Kotte, Müller und Weber an die Stasi ausgeliefert hat. Frau Cyriax zeigt mir die Kopie eines Dokumentes, in dem Herr Ihle die Stasi informiert über P sie! Gitta Cyriax gehört sicherlich nicht zu den Leuten die einen Strich unter die IM-Affären ziehen wollen.

Nicht nur ich bin von Kopf bis Fuß auf die Wende eingestellt, die Welt der Kabarettisten auch. Das Programmheft in der Herkuleskeule ("So weit sind wir gekommen") zeigt einen schwarz-rot-goldenen Holzzaun, auf den ein Emblem genagelt ist. Es gibt einen großen, herrischen Adler zu sehen und ein kleines, rotes, ängstliches Vögelchen. "Zusammennageln was zusammengehört" steht zynisch da. Karl (67) aus Dresden sagt: "Die wollen uns doch bloß zeigen, wie man mit Gabel und Löffel isst!" Anna (57), Arbeiterin, benutzt einfache Wörter, um ihr Gefühl zu zeigen: "beschissen, ausgebeutet, verarscht". - Jammer-Ossis? Schimpf-Ossis!

Am 8. März besuche ich eine kleine Veranstaltung der SPD am Wettiner Platz. Hier fand genau vor 68 Jahren die erste Buchverbrennung in Deutschland statt. Fast jeden Tag zeigen die Deutschen, dass sie ihre Vergangenheit kennen und nicht vergessen wollen. Aber überall sind es vor allem ältere Leute, die kommen.

Dann erlebe ich die Wende meines Dresdner Aufenthalts. Herman van Veen macht einen ausverkauften Kulturpalast total verrückt. Sieben Zugaben fordern die Zuschauer. Es sind sehr viele junge Leute im Saal. Da sind die endlich. Ich wusste nicht mal, dass Dresden so viele Jugendliche hat! Schöne Jugendliche. Farbenfreudig angezogen, gut gelaunt. Nicht gerade gelernte Hilflose oder angepasste Meerschweinchen. Nur Helga aus Frankfurt wirkt ein wenig hilflos. Sie steht nach der Vorstellung mit bedepperter Miene und mit Blumen und einem Geschenk im Foyer; Herman hat sie nicht bemerkt. - Am Sonntagmorgen treffe ich mich mit Herman van Veen, meinem Landsmann, zum Frühstück. Er erzählt wie faszinierend es ist, hier zu sein und mitzuerleben, wie die frühere DDR sich entwickelt. Herman war oft in der DDR und sagt: "Was mich immer aufgeregt hat, war die Art und Weise, wie die Leute miteinander gelebt haben: die Solidarität, das Gefühl der Gemeinsamkeit, das ich da immer gespürt habe. Das habe ich immer als einmalig erfahren." Ich würde gerne glauben, es wäre so. Eine gelernte Ostdeutsche sagt mir jedoch: "Klar, dass wir uns in der DDR gerne unterhielten. Wir wollten ja immer wissen, ob der andere etwas hatte oder kannte, das man brauchen konnte. Es war eine gezwungene Solidarität."

Mein Herz gehört trotzdem dem Osten. Mitleid und Melancholie kommen auf. Wir, die Ausländer wie die Westdeutschen, wissen nicht, wie es war in der DDR. Es war wohl mehr als eine Gesellschaft von Unterdrückern und Ja-Sagern. Viele Ostdeutsche fühlten sich früher missbraucht und fühlen sich heute missverstanden. Ich glaube Joachim Gauck hat recht, wenn er sagt: "Die entscheidende Herausforderung an uns Ostdeutsche ist, ob wir die Kraft und das Selbstbewusstsein aufbringen, vor unserer Geschichte nicht davonzulaufen, sondern uns ihren guten und schlechten Seiten zu stellen. Wer seine eigene Verstrickung erkennt und zugibt, wer über die Entwürdigung spricht, der er mit seiner Tätigkeit unterlegen ist, wer seine Angst beschreibt, von seinen Tränen und inneren Kämpfen erzählt und so den anderen zeigen könnte, was sich wirklich abgespielt hat, der würde mit Sicherheit nicht als Feind verurteilt werden, sondern wäre als Gesprächspartner akzeptiert." Sogar als Freund.



Von Henri van der Steen





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