Unser Lübeck
Jean Pierre Hintze

"Unser Lübeck" trifft Herman van Veen - Über Lübeck, Fußball und die Magie der Musik

28 november 2012

Zum wiederholten Male gastierte Herman van Veen in Lübeck. Der Sänger, Komponist, Schriftsteller, Schauspieler, Clown und Zauberer van Veen empfing "Unser Lübeck" am folgenden Tag.

Unser Lübeck: Gestern Abend fand hier in Lübeck Ihr Konzert im Rahmen Ihrer Tournee zur neuen LP statt. Das Publikum begeisterte sich, soweit meine Erkundigungen reichten, grandios. Was fällt Ihnen über die Jahre an ihrem Publikum auf? Wie hat sich ihr Publikum verändert?
Herman van Veen: Es wird vor allem jünger. Gestern, als das Licht im Saal anging, dachte ich, ich wäre der Älteste. Natürlich gibt es auch Leute meiner Generation, aber am meisten fällt mir auf, dass das Publikum jünger ist. Auffällig, eigentlich ...

Unser Lübeck: ... und ungewöhnlich!
Herman van Veen: Aber das liegt sicher daran, dass ich immer schon sehr viel für Kinder gemacht habe. Und die Kinder sind natürlich mit uns aufgewachsen, also all die Kinder, die damals schon Alfred Jodocus Kwak gesehen haben, sehen jetzt, dass es mich wirklich gibt. Als ich damals angefangen habe, da saßen dort auch Leute um die 50 Jahre, aber die sind eben jetzt nicht mehr da, die ältere Generation gibt es nicht mehr. Und meine Generation, ja, die wird eben auch ruhiger. Und das kann ich auch gut verstehen. Prozentual denke ich, dass etwa 10 bis 15 Prozent in meinem Alter, der Rest des Publikums aber so 20, 30 bis 40 Jahre alt ist. Und darüber freue ich mich natürlich riesig.

Unser Lübeck: Grandios sind auch ihre Musiker. Wie finden Sie Instrumentalisten, die ihre Kompositionen lebendig machen?
Herman van Veen: Ich bemühe mich echt, gehe viel in Konzerte, besuche Clubs und dabei habe ich während der letzten drei bis vier Jahre zwei junge Musiker entdeckt. Eigentlich gibt es da drei: Einer heißt Marnix Dorrestein, er hat in Holland als sprechender Pop-Künstler einen großen Preis bekommen und in diesem Jahr ist er wieder nominiert. Er ist Gitarrist, Komponist und Arrangeur. Und dann gibt es Willem Wits, er ist ein Perkussionist, ein Drummer... Aber er ist auch ein Filmemacher, auch ein Maler und ein Dichter, ein hochinteressanter, junger Mann. Und dann Dave Wismeijer, ein Bassist und Remixer - ich habe also diese drei Jungs bei mir. Eigentlich kommen wir alle aus dem klassischen Bereich...

Unser Lübeck: Das ist zu einem großen Teil astreiner Jazz auf der neuen LP...
Herman van Veen: Und die können mehr als wir! Ich glaube, dass ich mit meinem Abschlussexamen auf dem Konservatorium jetzt nicht gut genug wäre, um dort heute angenommen zu werden. Die sind technisch wesentlich besser und weiter entwickelt, als wir es damals je waren. Und dabei haben sie völlig andere Roots. Sie sind auch mit uns groß geworden, mit unserer Musik. Und in Holland, das weiß ich ganz gut, sind wir in der Popszene unwahrscheinlich beliebt, weil wir immer unsere ehrlichen Geschichten erzählt und uns nie etwas ausgedacht haben. Alles ist immer autobiografisch, ob es über unsere Verluste, Schwächen oder unsere Kräfte ging. Wir haben immer kommuniziert, womit wir beschäftigt waren. Junge Leute verstehen das, da wird ihnen nichts vorgemacht, so sind wir Teil ihrer Geschichte und es ist einfach pur und direkt... Das spüren sie vor allem auf dem letzten Album. Auf dem Album davor war der Einfluss von Zapp! sehr groß; das ist ein Jazz-Streichquartett, die haben auch mitgemacht auf diesem Album. Und davor war es das Rosenberg-Trio mit den Gypsie-Gitarristen. Also, ich bin immer dabei, Leute einzubeziehen, die mich bereichern. Das hat wohl mit meiner Neugier zu tun...

Unser Lübeck: Vor dem Anfang Ihrer Karriere haben Sie sich viel mit klassischer Musik beschäftigt, verspürten jedoch den Drang, persönlicher mit der Musik umzugehen. Wie viel Freiheiten geben Sie Ihren Musikern?
Herman van Veen: Also, lass mich das so sagen: Da ist eine Energie, die man braucht! Wir sprechen hier über ein Konzert. Du kannst die Energie von vornherein festlegen: Entweder fängst du mit einem Bumm an oder mit einer Implosion. Man kann nur nicht medium sein, das funktioniert nicht. Also rennst du da rein und explodierst oder implodierst. Es muss eine Energie sein, bei der die Leute dann entscheiden: Wir bleiben sitzen! Schon beim ersten Ton. Das kann auch leise sein, aber du weißt, du brauchst diese Energie. Manchmal weiß man, wir haben diese Energie jetzt nicht und was dann kommt, funktioniert immer erst nach der Feststellung, diese Energie eben nicht zu haben. Dann ruft der eine etwas oder der andere fängt an zu spielen - dann ist es der Beginn der Entwicklung der Energie. Und dann kann Sprache, Musik kommen oder Stille oder Geste oder Humor oder whatever! Aber das Schöne ist, dass man es bewusst beginnen muss und wissen muss, es nicht wissen zu wollen.



Unser Lübeck: Die berühmte Magie, die der Zaubermeister beschwören muss...
Herman van Veen: Wenn man da einen Plan hat, ist man ein Schlachtopfer seiner eigenen Gesetze. Es geht eigentlich um Empathie. Es ist wie in einem Kinofilm, es ist fast etwas Wissenschaftliches, bei uns ist es aber auch Erfahrung. Da schüttelt einer einem erst die Hand und sagt: Wie geht es Dir? Und der andere sagt: Mir geht es... Naja, ich habe einiges erlebt und so weiter, und: Wie geht es dir? So! Dann können wir spazieren oder vielleicht müssen wir auch Essen gehen. Wie geht es deinen Eltern? - Ooch, übrigens, ich bin geschieden! Wie geht es denn deinen Enkeln? Und so steckt eine Struktur zusammen, und man weiß nie genau... Gestern, da habe ich Eric zugerufen: Spiel weiter, spiele weiter, spiele weiter! Denn du bist jetzt der Beste, um diese Energie jetzt einzufangen.

Unser Lübeck: Ihre Musik in Schubladen einzuordnen ist eigentlich kaum möglich: Liedermacher greift zu kurz, Jazz-Lyrik ist ein weiter Begriff. Muss Musik eigentlich immer klassifizierbar sein?
Herman van Veen: Nein, überhaupt nicht. Ist ein Baum ein Wald? Oder ist ein Wald ein Baum? Oder ist ein Wald noch ein Wald, wenn eine Straße... Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich verstehe natürlich, dass man die Dinge in

Kategorien einteilen muss, aber Musik ist Musik. Das ist alles persönlich, also alles subjektiv. Es gibt so gewisse Lebensphasen: Man sitzt da im Auto - ich habe das einmal genau so erlebt - mit ´nem Song von John Lennon und da war mein Leben so komplex. Ich hörte jedenfalls auf einmal diesen jungen Sänger, das war Ende der sechziger Jahre, der sang einen bestimmten Satz! Ich habe mein Auto abgestellt. Ich habe geweint und mich in diesen Mann verliebt - für den Rest meines Lebens. Er hat da was gesungen, was ich brauchte. Und ich habe ihn nicht gefragt, ob er für mich singen könnte, aber er hat für mich diesen Satz gesungen, durch den ich wusste, wie es weiter ging. So etwas vermittelt Musik! Man erinnert sich an die Beerdigung von..., man denkt an die Ehe mit..., an eine bestimmte Stimmung.

Unser Lübeck: Sie schreiben nicht nur für sich und Ihre Fans, sondern auch noch für Kinder, Film- und Fernsehproduktionen. Zum Umfang Ihres Schaffens befragt, gaben Sie einmal an, rund 3.000 Kompositionen erschaffen zu haben. Sind Sie ein manischer Komponist?
Herman van Veen: Musik ist wie Atem für mich. Nicht gut oder schlecht. Es hat alles zu tun mit: Wo befinde ich mich? Was findet da statt? Kann ich damit etwas anfangen oder fängt es was mit mir an? Musik ist... ja, wie ich schon sagte, Musik ist wie Atem. Ich kann mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen.

Unser Lübeck: Sie stecken mitten in ihrer zehnten großen Tournee - ein Jubiläum. Wer Sie jedoch kennt weiß, dass Sie nicht nur Komponist und Interpret sind. Sie führen auch ein Leben als Schauspieler, Schriftsteller, Groß- und Familienvater und sie engagieren sich gesellschaftlich. Wie geht das zeitlich, wie funktioniert es überhaupt?
Herman van Veen: Keine Ahnung. Wir sprechen jetzt gerade mit ein paar Freunden, die gerade hier bei mir sind: Harald Siepermann, der Zeichner von Alfred Jodocus Kwak, Edith Leerkes, meine Gitarristin und eine junge Künstlerin, die in Zukunft Alfred Jodocus Kwak weiterentwickeln möchte, nämlich als Alfred Jodocus Kwak Junior. Die junge Frau, sie ist schwanger und wird eine Tochter bekommen... Das passt genau! Sie wird Junior entwickeln und das ist logisch, denn sie bekommt ein Kind. Harald muss etwas auskämpfen mit seinem Leben jetzt - mit einer Krankheit. Das ist eine ernste Sache, aber wir haben das Gefühl, dass wir das schaffen. Und das findet dann beim Frühstück statt, das findet zwischendurch statt... Wir haben viel geplant, Thema heute war ein Kinofilm, den wir machen wollen, zu Ehren von UNICEF, mit Alfred Jodocus Kwak, weil Alfred und UNICEF sehr nah verbunden sind. Am 20. November ist das Jubiläum der Unterzeichnung der Kinderrechte - ich war damals dabei, in New York. Wir wollen die Unterzeichnung feiern und dann zu Ehren dieser Unterzeichnung den Kwak-Film zeigen.

Unser Lübeck: Der Erfolg eines Konzertes hängt immer mit der Szenerie, der Umgebung zusammen. Wie gefällt Ihnen der Saal hier, diese Musik- und Kongresshalle?
Herman van Veen: Schön! Der Saal braucht eigentlich keine Tonanlage, das ist eine akustische Sache. Meine Geige, ich habe gestern Geige gespielt, ohne Ton - das knallte. Der Willem Wits, der wurde drei Meter groß oder so. Visuell ist der Saal super, akustisch ist er super. Es ist nur nicht leicht, wenn man laute Musik macht. Wir machen auch sehr laute Musik, dann kann es etwas hallig werden. Aber dann müssen wir näher an die Mikros gehen und die können alles verstehen. Es ist nur so, dass ein Wort hier etwas länger dauert, man muss da mit seiner Stimme etwas härter arbeiten als irgendwo anders. Aber ich mag diesen Saal sehr. Das ist ein super Saal, der eine eigene Dynamik hat. Die Leute gestern waren jedenfalls super.

Unser Lübeck: Wie fanden Sie ihr Lübecker Publikum? Die Norddeutschen gelten als schwierig...
Herman van Veen: Die standen gestern auf, das war Nordeuropa! Das war doch früher alles Holland hier, also, das muss alles Holland gewesen sein. Also, diese Städte - wie Haarlem und Amsterdam... Ich bin hier nicht zu Hause, aber die Art Wind, Licht, Blick, Land - sehr Holland-ähnlich.

Unser Lübeck: Was verbinden Sie mit Lübeck?
Herman van Veen: Ich kann sehr viel erzählen über den Einfluss Lübecks in meinem Leben und umgekehrt. Ich komme seit vierzig Jahren hierher, alle drei Jahre etwa. Ich war hier in guten und in blöden Zeiten. Ich war zum Beispiel hier während einer Krise, ich ging nachts durch die Stadt und es ging mir so beschissen. Und dann habe ich in diese Kneipen hineingeguckt. Ich habe nicht gewagt, hineinzugehen. Wenn ich sonst in eine Kneipe gehe, dann ist die Ruhe weg. Da kommen sieben, acht Leute zu mir und sagen: Mein Opa hatte..., meine Tante möchte..., ich liebe jenes..., ich hab´das Buch hier... Also, da habe ich keine Ruhe. Ich wollte aber gerne reingehen, denn ich brauchte andere Kontakte als die Leute, mit denen ich unterwegs war und ich ging ging rein und hatte meine Ruhe.

Unser Lübeck: Auch als fanatischer Fußball-Fan sind Sie bekannt. Haben Sie jemals von einem Verein namens VFB Lübeck gehört?
Herman van Veen: Nein...

Unser Lübeck: Ein erfolgloser Lübecker Abstiegsverein, der seit Jahren seinen Anhängern sehr viel Kummer macht. Immerhin lebender Beweis, dass deutscher Fußball nicht immer bedrohlich sein muss.
Herman van Veen: Nein, im Gegenteil. Ich finde sogar, dass die Deutsche Nationalmannschaft holländischen Fußball spielt. Die spielen so, wie wir früher spielten und wir immer noch spielen möchten. Aber wir hatten mit dieser Europameisterschaft Pech! Das ist im Fußball natürlich immer so. So zum Beispiel im Länderspiel Holland gegen Rumänien, ein Schuss geht über die Latte und gerade nicht ins holländische Tor - wäre es ein Tor geworden, hätten wir sicherlich verloren - und dann machen wir so ein Tor und gewinnen mit drei zu eins, also: Zufall spielt eine große Rolle, aber den Zufall kann man auch erzwingen, nicht? Deutschland gehört jetzt sicher zu den besten Nationalmannschaften der Welt, aber Holland auch. Es bleibt immer spannend, wir wetten auch jeden Monat...

Unser Lübeck: Hier in Deutschland besteht ja - aus berechtigten Gründen - zum Nationalstolz ein schwieriges Verhältnis. Jene, die dieses schwarz-rot-goldene Selbstbewusstsein nicht teilen möchten, schlagen sich lieber auf die Seite der Gegner, in Norddeutschland ist man dann fast schon traditionell für Holland und Dänemark...
Herman van Veen: Ja, ja

Unser Lübeck: ... und kleidet sich auch gerne in Orange.
Herman van Veen: Zu Recht!

Unser Lübeck: Woher kommt diese Liebe der Norddeutschen ausgerechnet... Wobei wir darauf eigentlich eben schon kamen.
Herman van Veen: Bei uns ist es genauso grün und genau so blau. Und schauen Sie sich ihre Augen an und schauen Sie meine Augen an. Also, wir könnten Brüder sein, auf eine bestimmte Art und Weise - das ist Mentalität. Ich bin auch immer für die Dänen und ich habe große Schwierigkeiten mit den Franzosen. Ich muss ehrlich sagen: Wenn Deutschland spielt, bin ich für Deutschland, trotz der Vergangenheit. Wenn Deutschland - Frankreich oder Deutschland - Italien spielt, will ich, dass Deutschland gewinnt. Da kann ich auch nichts dafür, das ist einfach so!

Unser Lübeck: In meiner Generation schätzt und verbindet man mit Holland - außer den Fußball - meistens CenterParcs, (natürlich) Coffeeshops, das Anne-Frank-Haus an der Prinsengracht in Amsterdam, Königin Beatrix (eigentlich aber nur parodiert von Hape Kerkeling) und komische Klischees, die gar nicht stimmen. Was würden Sie den deutschen Nachbarn und Touristen in Holland empfehlen?
Herman van Veen: Augenblicklich zu den Museen zu gehen. Was Deutschland an Komponisten hat, hat Holland an Malern. In den Museen in Holland eröffnet sich eine Welt. Genialst. Immer das Meer. Das Meer ist atemberaubend. Ich denke, dass besonders für Deutsche die Provinz Zeeland sehr schön ist - und Fryslân, Fryslân kennen die Deutschen nicht so gut, aber das ist sehr trendig. Mit Overijssel sind das drei sehr schöne Provinzen, mit sehr viel Wasser, sehr viel Wald, viel Ruhe, sehr viel gute, gute Hotels. Und was Holland sonst noch hat: Die Altstädte, so wie in Maastricht, die alten, wirklich mittelalterlichen Städte wie zum Beispiel Brügge oder Gent - phantastische, historische Städte, wo nicht soviel Tourismus ist. Ich sage, man befindet sich dort im "Immer". Das sind dort "Immer-Zeiten". Man kann dort durch eine Straße gehen und dann sieht man tausend Jahre Architektur. Und wenn man einen Blick dafür hat, ist das hoch interessant.

Unser Lübeck: Der Umfang ihres Werkes ist gigantisch. Wann gibt es ein van-Veen-Museum?
Herman van Veen: Ich will das nicht...also das wäre beängstigend. Ich bin ein paar mal in der Verlegenheit gewesen, dass man mich gefragt hat, aber ich habe gesagt: Nein! Also, dass wäre dann der erste Nagel an meiner Kiste. - Aber wir sind dabei, ein Künstlerzentrum zu entwickeln. Harlekin, meine Firma, macht, was es immer gemacht hat, sie präsentiert junge begabte Leuten im Bereich Film, Theater, Tonkunst, bildende Kunst und so. Ab Ende Januar haben wir eine neue Galerie, wo wir neben meinem Werk junge Künstler präsentieren. Wir haben ein kleines Theater, es liegt mitten in der Natur, nicht groß, aber schön, wo wir immer samstags und sonntags Matinee mit jungen Künstlern, Musikern und Dichtern haben. Wir zeigen dort die neue Janine Janson, den neuen Bartholdy, den neuen John Lennon oder whatever. Und das ist es, was ich eigentlich unwahrscheinlich interessanter finde als ein Museum.

Unser Lübeck: "Für einen Kuss von Dir", den Titelsong ihrer neuen LP haben sie ihren Enkelkindern geschrieben und gewidmet. Worauf legen Sie als Großvater bei ihren Enkelkindern besonderen Wert?
Herman van Veen: Zuhören. Dass ist eigentlich alles. Nur zuhören.

Unser Lübeck: Der Song über Lucas handelt über einen Jungen, der seiner Mutter die Frage stellt, weshalb er anders als die anderen ist. Ist eine andere Sicht der Dinge statt üblicher Betroffenheit ein Schlüssel zum Glück?
Herman van Veen: Also das ist eine sehr interessante Frage. Ich glaube, dass dein Glück immer mit Empathie anfängt. Du kannst erst glücklich werden - dass glaube ich persönlich - wenn man Interesse an einer anderen Person hat. Es kann auch Natur oder Musik sein. Aufrichtiges Interesse an dem, was du nicht verstehst. Ich glaube, dass das ganze Leben eine Begegnung ist. Man muss dafür einen Weg gehen, aber nicht zu weit! Und du musst realisieren, dass du es nie alleine schaffst. Es geht nicht alleine! Glück ist immer ein Moment. Man kann nicht sagen: Ich bin glücklich. Man kann sagen, es gibt so Tage, an denen ich total glücklich bin. Aber es gibt auch viele Tage, an denen ich völlige Kopfschmerzen vom Denken habe - aber insgesamt verläuft mein Leben erstaunlich glücklich. Meine Eltern haben hier eine große Rolle gespielt.

Unser Lübeck: In dem Song "Morgen ist es vorbei" halten Sie Zwiesprache mit ihrer Mutter, die viel Entbehrung und Verzicht auf sich nehmen musste? Hatten Sie Gelegenheit, ihr zu Lebzeiten Ihre Dankbarkeit zu zeigen?
Herman van Veen: Meine Eltern sind beide 82 geworden. Wir waren uns sehr nah. Meine Eltern waren immer der Trreffpunkt der Familie, alles fand dort statt. Nach dem Tod meiner Eltern fand das bei uns statt, weil wir auch viel mehr Platz haben. Und scheinbar trifft man bei uns auf Ohren für Geschichten. Meine Eltern haben viel Pech gehabt durch den Zweiten Weltkrieg. Also dieser Krieg fing bei uns an als sie so 18, 19 Jahre alt waren. Und so fünf Jahre später waren alle Möglichkeiten und alles, was sie sich vorgenommen hatten weg! Also, die haben Dinge gesehen - das hat ihr Leben so drastisch geändert, dass sie sich entschlossen haben, ihr ganzes Leben dem Dienst an ihren Kindern unterzuordnen. Ihre eigene Zukunft war eigentlich unmöglich geworden und es musste ja auch Geld verdient werden. Die holländische Schriftstellerin Connie Palmen hat mal gesagt, dass es ein Verbot auf Unzufriedenheit gab. Zum Beispiel wenn wir uns mal beklagten, über den scheiß Regen und so...

Wenn meine Eltern anfingen, über den Krieg zu plaudern, dann habe ich mich ganz oft unter dem Tisch versteckt. Der Krieg hat ihr Leben geprägt. Es ging immer darum, was ihnen passiert ist und wie sie da raus gekommen sind. Mein Vater fand Europa unwahrscheinlich wichtig, das hat er immer wieder betont. Und er hatte Recht! Bis heute hat er noch Recht behalten. Ich bin 67 Jahre alt und ich habe 67 Jahre in einem Land gelebt, in dem es keinen Krieg gab. Das ist einmalig in der europäischen Geschichte, dass hat zuvor nie stattgefunden. Und das haben wir kollektiv unseren Eltern zu verdanken.
Unser Lübeck: Sie nutzen intensiv neue Medien: Facebook, Twitter, eine eigene Homepage - ist das Internet nicht wunderbar?

Herman van Veen: Ja!
Unser Lübeck: Man kann dort einiges über Herman van Veen erfahren. Gemeinsam mit der deutschen Herman-Van-Veen-Stiftung werden Kinder und Jugendliche, die körperliche, psychische oder traumatische Ausnahmesituationen verarbeiten müssen, unterstützt. Sie kümmern sich also auch um die Durchsetzung von Kinderrechten. Wie können sich Ihre Fans und Freunde engagieren? Wie kann konkret der Stiftung geholfen werden?

Herman van Veen: Interessante Frage! Geld hat eigentlich weniger unser Interesse. Man kann uns zum Beispiel wenig helfen - aber man kann sich selbst helfen. So kann eine Schule realisieren, dass außer Rechtschreibung, Grammatik, Algebra oder whatever auch Kinderrechte zum Lehrplan gehören. Oder in den Universitäten: Wenn du Jurist werden willst, solltest du dich vielleicht mit Kinderrechten beschäftigen. Will man die Weltökonomie verändern, dann muss man die Kinderrechte respektieren. Ökonomie, die zum Reichtum einiger weniger führt, ist nicht ökonomisch. Beispielsweise treffe ich manchmal Geschäftsleute, dann plaudern wir so und ich frage: Was machen sie? Und die sagen: Wir haben das und das vor... Und dann sage ich: "Darf ich Sie etwas fragen? Was sie auch vorhaben - was bedeutet das für die Kinder?" Dann staunen die ab und zu. Sie denken eher an Behinderte oder die denken an...Aber selten an Kinder.
Oder ich frage: "Was bedeutet der Stoff, den du produzierst für die Gesundheit? Was bedeutet..., was bedeutet..., was bedeutet...?" Und das ist eigentlich das, was Alfred Jodocus Kwak tut. Der hat dieses Basiswort "Warum?" - König, sie schwimmen immer in Limonade. Warum? - Ja, das hat unsere ganze Familie immer getan. - Warum? - Ja, die fanden das lecker. - Warum fanden die das lecker? - Äh, ja, das müssen sie meine Frau fragen. - Warum muss ich das ihre Frau fragen? Und er fragt nur immer weiter, bis keine Antwort mehr da ist. Dann weiß er, was er zu tun hat. Wenn man immer weiter fragt, kommt man immer auf einen Moment, wo niemand mehr Recht hat. Dann kann niemand mehr antworten.

Unser Lübeck: Aber ob das zum Umdenken reicht? In der Praxis zählen doch eher Sachargumente als Bauchgefühle.
Herman van Veen: Natürlich! Wenn man mir erklärt, Kernreaktoren sind nützlich für uns, dann verstehe ich das. Aber was passiert mit unseren Kindern, die das mal aufräumen müssen? Das ist die wichtige Frage! Wir haben, was die Kinderrechte betrifft, nicht das Recht, die Kinder mit Problemen zu konfrontieren, welche sie dann nicht lösen können. Ein Kind überlebt sogar die Geschwindigkeit von dreißig Kilometer nicht, wenn es von einem Auto überfahren wird. Aus ökonomischen Gründen gibt es nur eine Zone 30, aber da müsste es ein Zone 10 geben, weil meine Enkel da wohnen. Ein Kind kann sich selber nicht vertreten; das müssen wir tun. Aber wir tun es viel zu selten. Natürlich passieren phantastische Sachen und es gibt Stiftungen und, und, und...

Aber: Wenn Flüchtlinge nach Holland kommen mit ihren Kindern... Die Kinder haben zwar ihre Rechte, das hat die ganze Welt so unterschrieben. Aber in der Praxis haben sie diese Rechte nicht. Sie kriegen keinen Unterricht, obwohl es unsere Pflicht ist. Keiner interessiert sich dafür, weil die Kinder keine Anwälte haben. Sie sind im doppelten Sinne gehandicapt, weil die Eltern sie aus Kriegsgebieten oder aus ökonomischen Gründen mitgeschleppt haben. Ein anderes Beispiel: Wenn man über den Horror der Kinderpornos nachdenkt - Holland ist ein sehr großer Produzent von Kinderpornos - da passiert unwahrscheinlich Schlimmes. Das darf eigentlich nicht stattfinden, da werden die Kinderrechte so verletzt. Man spricht dabei nicht über die Rechte der Kinder - man spricht von Porno. Man spricht von Kinderporno. Nein, so darf es nicht gehen, man hat dazu nicht das Recht. Es geht dann um Anklage und Verteidigung der Täter. Aber ich will Anwälte, die Kinder vertreten. Eine Gesellschaft, die für die Kinder da ist und nicht für die Belange der Erwachsenen.
Unser Lübeck: In diesem Zusammenhang wird fast ausschließlich über Zensur und Datenschutz diskutiert, am wenigsten aber über die Situationen der betroffenen Kinder...
Herman van Veen: Das ist nicht mehr zu verstehen! Und es betrifft so viele Bereiche. In Holland gibt es zum Beispiel die Schulpflicht, aber sie stammt aus einer Zeit, als Kinder missbraucht wurden in Arbeitsprozessen. Heute sollte es vielmehr ein Recht und nicht eine Pflicht sein, dass ein Kind in die Schule geht. Es hat das Recht, in die Schule zu gehen - ein völlig anderer Point-of-View. Wenn Kinder verstehen, dass die Schulen für sie alle da sind, anstatt dass sie hin müssen, weil die Eltern das so wollen, bekommen sie ein völlig anderes Bewusstsein. Wenn Leute sich für Kinderrechte engagieren würden - und was das praktisch bedeuten könnte für unsere Gesellschaft - das wäre eine Revolution. Das wäre eine echte Revolution.

Unser Lübeck: Vielen, vielen Dank - und weiterhin schöne, erfolgreiche Abende auf der Tournee.