SHZ
Antje Walter

Herman van Veen:

Augenmensch, der nachts sehen kann

25 oktober 2012

Kind im Großvater: Herman van Veens Programm "Für einen Kuss von Dir" erzählt Geschichten aus seinem Leben mit Musik.

Am Freitag und Sonnabend gastiert Herman van Veen im Deutschen Haus mit seinem Programm "Für einen Kuss von Dir"


Flensburg. Wer Herman van Veen mal ganz privat über den Weg laufen will, muss Nachtschwärmer werden. "Vor allem nachts sehe ich viel", verblüfft van Veen. Erst nach der Vorstellung finde er Ruhe, sagt der Lieblingsniederländer vieler Deutschen, und kann buchstäblich unerkannt und unbehelligt durch eine Stadt streifen. Tagsüber hat er dafür ohnehin keine Zeit. "Was haben wir gestern gelernt", laute nämlich dann die Frage, auf die van Veen und seine musikalischen Wegbegleiter bei Tageslicht Antworten suchen. Sie feilen am Programm, passen es Stadt und Leuten, den Erfahrungen des Vorabends und neuen Ideen an.

Seit 40 Jahren ist Herman van Veen unterwegs - als Liedermacher und Erzähler, als Clown und Musiker, als Kind im Mann. Zum zehnten Mal gastiert er in Flensburg, traditionell an zwei Abenden: am Freitag und Sonnabend jeweils um 20 Uhr im Deutschen Haus. Denn bei den Norddeutschen hat er einen besonders großen Stein im Brett. Der Niederländer hat eine Vermutung, warum das so ist: Er verdächtigt die Mentalität beider Volksgruppen, die einander ähnele. Und das wiederum könne in den "geografisch mehr oder weniger gleichen Umständen" begründet sein. Wind, Meer und Wolken zählt er auf als verbindend und spricht von der "Küstenwirklichkeit" der Niederländer und Norddeutschen. "Man ist Teil seiner Umgebung", beobachtet van Veen, stellt den Weitblick seiner Landsleute, der "Augenmenschen", die berühmte Maler hervorgebracht haben, aber kaum Komponisten, den Bayern gegenüber, die durch Täler und auf Berge klettern müssen, um in die Ferne zu sehen.

Van Veen hat Geschichte geschrieben und Geschichten. Er erinnert sich an Auftritte in der DDR. Er durfte das, sagt er, weil er Ausländer war und Humanist statt Ideologe. "Ich will einen Stein aus dieser Mauer brechen", erinnert er als sein Credo und eine Szene nach dem Mauerfall in Leipzig, als ein Radfahrer ihn erkannte, anhielt und ihm einen Stein schenkte. Die Unterschiede unter den Deutschen seien "beinahe weg", nur die der Geschichte würden bleiben.

"Dat", sagt er; das muss in plattdeutschen Ohren wie Musik klingen - und der niederländische Tonfall dazu. Die Verpackung ist das eine, und der Inhalt erst: klug, schräg, schlau, hoch gelobt. Auch sein Programm "Für einen Kuss von Dir" ist vor allem Musik und Tagebuchtext, biografisch. Es biete Einsicht in sein Leben anhand seiner Lebensgeschichte, blicke gar über den Tod hinaus und trägt denselben Titel wie sein jüngstes Buch und ein Lied, das Herman van Veen für seine beiden Enkelsöhne geschrieben hat. "Wenn Du keinen See hast, ich mal Dir einen", zitiert der Autor und Komponist eine Zeile daraus. Was er sagt, klingt im Kern nach der These: Wer einen Großvater hat, der braucht keinen Zauberer mehr . . .

Vorstellung und Buch sind verwandt, ergänzen einander, sprechen eine Sprache. Die Vorstellung könne man wie eine Mappe benutzen, regt van Veen an, wie eine Straßenkarte, um sich zurechtzufinden und sich in den Tiefen des Buches zu amüsieren. Ausgeklügelter seien die Gedanken im Buch. Manchem Leser mögen sie bekannt erscheinen; manche "Sonntagsgedanken" van Veens kehren hier wieder. Und manche Besucher in seine Vorstellung, denn die wissen, dass der Künstler immer wieder von Stadt zu Stadt Neues sagt und singt. So wie sich die Orte und Worte wandeln, so verändert sich die Resonanz der Zuschauer. "Die Reaktionen erzählen viel über die Wirklichkeit, wo Du bist", sagt er, gibt das Beispiel Religion, das in Süddeutschland völlig anders verstanden werde als im Norden.

"Das Kind im Erwachsenen stirbt nicht", sagt er auch und dass er interessant am Menschen finde, "wie sie in der Lage sind, etwas zum ersten Mal zu sehen". Wann ist ihm das zuletzt gelungen? "Im Lift", erinnert sich van Veen tatsächlich. Überrascht habe er im Angesicht der vielen Spiegel seine Rückenansicht mal wiedergesehen. Es muss selbst lachen - das Kind im Spiegel.