Mitteldeutsche Zeitung
Mark Olbert

"Ich will ewig leben"

11 november 2012

Herr van Veen, erhalten Sie noch Morddrohungen von Rechtsextremen?
van Veen: Nein, Gott sei Dank ist diese Geschichte vorbei. Nach ungefähr sechs Monaten hörte das wieder auf.

Sie hatten im Jahr 2009 die Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders kritisiert.
van Veen: Das war bei einer Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Ich verglich die Art, wie seine Partei die Feindseligkeit gegen Muslime, Afrikaner und andere Minderheiten schürt, mit der niederländischen Nazi-Bewegung während des Zweiten Weltkriegs. Zu Wilders selbst mag ich mich nicht mehr äußern: Wenn es ihn nicht gäbe, gäbe es einen anderen, der attraktiv ist für solche Fanatiker, die es nicht ertragen können, dass man sie analysiert. Diese Leute, die behaupten, sie wollten unsere Gesellschaft schützen, respektieren nicht einmal die Meinungsfreiheit, das höchste Gut dieser Gesellschaft.

Sie mussten mit Bodyguards auftreten.
van Veen: Ich wurde rund um die Uhr beschützt und bewacht. Manchmal standen meine Bodyguards sogar auf der Bühne. Mittlerweile habe ich keine Angst mehr.

Ihnen geht es also wieder rundum gut?
van Veen: Mir geht es blendend. Ich habe anscheinend gute Gene. Meine Eltern sind beide Mitte achtzig geworden, meine Großeltern sind auch nicht jung gestorben. Was meine Erbanlagen wert sind, sehe ich, wenn ich mich umschaue: Man verliert so viele Leute. Ironisch gesagt: Der größte Teil meines Publikums ist schon gestorben.
Einer Ihrer Kommilitonen war der Pianist Erik van der Wurff, der Sie bis heute begleitet. Wer von Ihnen beiden hatte die Idee zu dieser Mischung aus Liederabend, Tanz und Clownerie, die Sie berühmt gemacht hat?

van Veen: Wir beide - aus Zufall. 1965 war das. Die Universität suchte Studenten, die zur feierlichen Diplomübergabe eine kleine Show machen sollten. Und da sagten Erik und ich einfach so: "Okay, das machen wir." Wir führten dann eine kleine Rundreise durch die Studienzeit auf, mit eigenen Liedern, mit Ironie und Parodien. Danach kam ein Mann und sagte: "Meine Tochter heiratet nächste Woche. Könntet ihr Minute 27 bis 35 bei der Hochzeit zeigen?" Da fragte Erik scherzhaft: "Wie viel Geld kriegen wir dafür?" Der Mann sagte ernsthaft: "Wie viel verlangt ihr?" Und Erik antwortete: "700 Gulden" - was damals sehr viel Geld war. Und der Mann sagte: "Einverstanden." Das fanden wir unglaublich. Auf der Hochzeit kam wieder ein Mann auf uns zu, der ein kleines Theater besaß. Der lud uns auch ein.
Ein niederländischer Violinist und Clown begeistert die Menschen in aller Welt. Fragen Sie sich manchmal, woran das liegt?

van Veen: Wenn ich auftrete, bin ich von allen Leuten im Saal derjenige, der es am schönsten findet. Das spüren die Menschen. Es ist immer wieder aufs Neue ungeheuer spannend, zumal wir das Programm von Tag zu Tag ändern, damit es nicht Routine wird. Ich bin jeden Abend auf der Suche nach diesen Momenten, in denen es so klingt, wie ich es mir eigentlich wünsche. Und abends nach den Konzerten sitzen wir zusammen und reden darüber, was wir besser machen könnten, was wir ausprobieren sollten. Wenn es uns dann gelingt, ist das Glück. Mein leider verstorbener Freund Willem Wilmink, er war ein niederländischer Dichter und hat viele Texte für mich geschrieben, hat mal gesagt: "Herman, es ist doch ganz einfach: Ein Maurer geht an einer Mauer vorbei, die ein anderer Maurer gerade gemauert hat, und sagt: ,Verdammt schöne Mauer!´"
Sie gelten als Melancholiker. Zu Recht?

van Veen: Ich bin mit dieser Charakterisierung überhaupt nicht einverstanden.
"Ich hab ein zärtliches Gefühl" - dieses Lied ist Ihr Markenzeichen.

van Veen: Meine Kinderfigur, die Ente Alfred Jodocus Kwak, aber singt: "Warum bin ich so fröhlich?"
Eben! Die wundert sich über sich selbst. Thomas Woitkewitsch, Ihr deutscher Übersetzer, sagte schon vor vielen Jahren, Sie brauchten eigentlich mal ein Lied mit dem Titel: "Ich hab ein fröhliches Gefühl". Das Lied haben Sie immer noch nicht.

van Veen: Das stimmt. Aber wissen Sie: Melancholiker leben die Traurigkeit sehr aktiv, und das tue ich überhaupt nicht, im Gegenteil: Ich bin ein Erzrealist. Ich bin ein psychisch stabiler Mann, der sehr ernsthaft darüber nachdenkt und sich dazu äußert, was mit uns passiert, was in der Welt geschieht. Das Image des Melancholikers mag nun daher rühren, dass ich mich zum Beispiel auch dazu bekenne, wie sehr ich manche Menschen, die mir sehr wichtig waren und die gestorben sind, vermisse. Wenn ich im Konzert von meinen Eltern singe, wie sie den Krieg überlebt haben, wie sie alles dafür getan haben, damit wir eine schöne Kindheit hatten, eine gute Bildung, hat das nichts mit Melancholie zu tun, sondern mit Glück.
Denken Sie oft an Ihre Eltern?

van Veen: Täglich.
Ändert sich die Erinnerung?

van Veen: Meine Sichtweise auf meine Eltern hat sich nach deren Tod häufiger und stärker verändert als jemals zuvor. Ich habe im Alter festgestellt, dass meine Mutter im Bezug auf mich häufiger Recht hatte, dass sie viel mehr über mich wusste. Als junger Mann habe ich das nicht wahrhaben wollen, da war es mir enorm wichtig, Entscheidungen für mich allein zu treffen, nur weil es meine eigenen Entscheidungen waren. Heute, wo ich selbst erwachsene Kinder habe und meine Enkelkinder aufwachsen sehe, objektivieren sich meine Eltern.
Was heißt das?
van Veen: Ich sehe heute ganz klar, wer meine Eltern faktisch waren. Dieser Blick wird nicht mehr belastet durch Sentiments. Man ist auch freier, weil man sich ja nicht mehr beweisen und behaupten muss gegenüber den Eltern.

Sie haben zwei Söhne und zwei Töchter. Ihre Älteste hat mal in einem Fernsehinterview gesagt, Sie seien ein strenger Vater gewesen.
van Veen: Meine Kinder sollten sich ausprobieren, sollten selbst herausfinden, worin ihre Talente liegen, ihre Leidenschaften, was ihnen Freude bereitet. Sie sollten sich aber Mühe geben, es richtig zu machen, gut zu machen, mit Ernsthaftigkeit und Eigenverantwortung. Das war es, worauf meine Eltern immer Wert gelegt haben und wofür ich heute sehr dankbar bin.

Ich denke, dass ich meinen Kindern auf ihrem Weg den ein oder anderen nützlichen Gedanken mitgegeben habe. Und manchmal habe ich bestimmt auch streng gewirkt, weil ich auch ermahnt habe. Meine Älteste ist übrigens Schauspielerin geworden, sie ist sehr gut und in Holland sehr erfolgreich.

Ist sie der kleine Fratz auf dem Kinderrad, den Sie in Ihrem berühmten Lied aus den 70er Jahren besingen? van Veen: Sie ist der kleine Fratz.
Warum haben Sie ihr das nie gesagt?

van Veen: Sie meinen, sie weiß das nicht?
Das sagte sie in besagtem TV-Interview vor zehn Jahren.

van Veen: Ah ja. Also mittlerweile weiß sie es - ganz sicher.
Dass sich Kindheit von Generation zu Generation verändert, ist eine Binse. Wenn Sie die Kindheit Ihrer Kinder mit der Ihrer Enkel vergleichen, was fällt Ihnen besonders auf?

van Veen: Das sind andere Welten. Ich staune zum Beispiel darüber, wie viel mein zwölfjähriger Enkelsohn weiß. Wenn ich eine Frage habe oder etwas herausbekommen möchte, nehme ich mir einen Zettel und einen Bleistift und suche im Regal nach dem passenden Buch. In der Zeit hat mein Enkel das schon dreimal im Internet gefunden und ruft zu mir herüber: "Schau Opa, so und so ist es!"
Medienkompetente Erziehung gehört zum Anforderungsprofil aufgeweckter Eltern. Dabei sind wir selbst noch Lernende.

van Veen: Ich glaube, dass es nie zuvor so schwierig war, Eltern zu sein. Man weiß gerade mal, wie es funktioniert, aber man weiß nicht, wie sich diese Spiele, die Videos, die sozialen Netzwerke auswirken, emotional, intellektuell. Mir fällt auf, dass die Kinder Informationen nicht mehr interpretieren. Für meinen Enkelsohn ist ein Auto ein Auto, und das fährt.
Er fragt nicht nach dem "Warum?"

van Veen: Was ja bekanntermaßen die beste Frage ist, die man stellen kann. So wie es meine Ente Kwak immer tut. Das ist eine Kinderfigur, natürlich, aber ich bin nicht sehr anders. Ich frage heute noch nach dem Warum. Warum sagt einer etwas so und nicht so? Warum sagt er es gerade jetzt? Was sagt er nicht? Neulich habe ich mich mit meinem Sohn über die Kuba-Krise unterhalten und bei diesem Gespräch fiel mir auf, dass nur noch selten von den amerikanischen Raketen berichtet wird, die damals in der Türkei stationiert waren, ausgerichtet auf die Sowjetunion. Mich treibt dann sofort die Frage um, warum das in so gut wie allen Artikeln zur Kuba-Krise unerwähnt bleibt.
Wenn man sich wirklich für Geschichte interessiert, wird man leicht die entsprechenden Informationen erhalten. Gerade im Internet.

van Veen: Aber nicht in den gewöhnlichen Artikeln und Fernsehsendungen. Deshalb müssen wir hinterfragen. Ich finde es gerade deswegen schlimm, wenn wir die Neugier unserer Kinder abwehren, wenn wir sie nicht dazu ermutigen, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Wenn Ihr Enkel Sie löchert, antworten Sie immer geduldig?

van Veen: Der Zwölfjährige fragt nicht mehr so viel. Wie gesagt: Der hat das Internet (lacht). Aber mein Sechsjähriger! Neulich wollte er wissen: "Opa, woran erkennt man, wann eine Blume stirbt?" - "Wenn ihre Blüten abfallen." - "Und wann müssen Menschen sterben?" - "Wenn sie sehr alt sind." - "Und wann wird Mama alt sein?" - "Wenn sie dich nicht mehr fragt, ob du deine Ohren gewaschen hast." - "Opa, können Kinder auch sterben?" - "Ja." Und dann musste ich ihm ganz viel erklären. Kinder stellen sehr ernsthafte Fragen, man sollte sie ernsthaft und ehrlich beantworten.
Wir schützen unsere Kinder oft zu sehr?

van Veen: Was verständlich ist. Ich glaube, wenn ein Kind über den Tod nachdenkt, darüber, dass Mama und Papa irgendwann nicht mehr da sein werden, dass es selbst sterben kann, dann zeigt das nur, wie glücklich dieses Kind ist. Wenn wir glücklich sind, wollen wir, dass es nie aufhört. Im Flugzeug denke ich auch jedes Mal: "Hoffentlich stürzt dieses Scheißding nicht ab." Man sollte sich als Eltern also nicht fürchten vor diesen Fragen.
Zum Wohl des Euro werden wir unseren Kindern wahrscheinlich einen enormen Schuldenberg hinterlassen. Wir glauben, keine Wahl zu haben. Was bedeutet das für die Zukunft der Kinder?

van Veen: Das muss man doch nicht erklären. Ich finde diese Politik, die nur die Gegenwart im Blick hat und den ökonomischen Zwängen gehorcht, extrem opportunistisch, links wie rechts. In Holland gibt es nur zwei kleine Parteien, die linken Grünen, die ich wähle, und die Tierpartei, so absurd es klingt, die sich in ihren Programmen intensiv der Frage widmen, was unsere gegenwärtige Politik für die Zukunft bedeutet, ökonomisch, vor allem aber auch ökologisch.
Bei den Parlamentswahlen im September haben die Niederländer den EU-kritischen Parteien eine klare Abfuhr erteilt. Was bedeutet Europa Ihnen? van Veen: Europa ist eine Tatsache, die uns seit vielen Jahren den Frieden bewahrt. Zum Glück sehen das die allermeisten meiner Landsleute auch so.

Akzeptiert man die starke Rolle Deutschlands?
van Veen: Ich weiß nicht, ob Deutschland wirklich alles bestimmt, wie manche glauben. Aber historisch betrachtet versteht Deutschland besser als jedes andere Land, wie wichtig es ist, dass dieses Europa dieses Europa ist. Das wird in den Niederlanden erkannt, wir stehen da sozusagen an Deutschlands Seite, unser Regierungschef sieht sich als ein Partner von Frau Merkel. Man kann sagen: Wir haben Vertrauen. Jetzt in der Krise offenbar noch mehr als sonst. Die Populisten und Utopisten, die gegen dieses Europa sind, haben zurzeit wenig Chancen.