Welt am Sonntag
Herman van Veen

Lieber schön verlieren als blöd gewinnen

10 juni 2012

Herman van Veen exklusiv über seine Liebe zum Fußball, den Klassiker Niederlande gegen Deutschland und ein großes Geheimnis


Ich habe eine große Leidenschaft: Fußball. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht solch ein Schönwetterfan, der ab und zu mal ein Spiel schaut und die Frequenz bei großen Turnieren steigert.
Nein, ich bin ein Maniac, verliebt in das Spiel, seit ich denken kann. Deshalb ist es mir auch unmöglich, meine Tourneen nach den Fußballspielen auszurichten, die ich gern sehen würde. Dann könnte ich nicht mehr auf Tournee gehen.

Womit wir bei meinem großen Dilemma angekommen wären. Ich stehe am Mittwoch auf der Bühne. Ausgerechnet während dieses Spiels: Holland gegen Deutschland, meine erste gegen meine zweite Heimat. Und ich kann es nicht sehen. Oder doch?

Ich spiele an diesem Abend im schönen Wiener Stadttheater. Da Österreich ja nicht zum Hauptverbreitungsgebiet der „Welt am Sonntag" zählt, vertraue ich Ihnen jetzt ein Geheimnis an, aber erzählen Sie es bitte nicht weiter, schon gar nicht Ihren Wiener Freunden: Ich gucke das Spiel trotzdem. Die Pause passe ich sowieso an das Spiel an. Ich gucke aber auch während der Vorstellung. Ich habe das - behalten Sie es bitte für sich - schon öfters getan. In den Kulissen stehen auf beiden Seiten Femseher, außerdem kannst du heutzutage mit Laptops und I-Pads sehr viel machen, vielleicht gibt es ja sogar ein Bildschirm mitten auf der Bühne. Für einen ungestörten Seitenblick lasse ich dann schon mal Bühnenarbeiter durchs Bild laufen. Es ist gar nicht so leicht, das geheim zu halten. Gerade wenn ein Tor gegen meine Mannschaft fällt, gibt es die Gefahr, dass meine Leidenschaft die Vorstellung stört. Und das sollte natürlich nicht passieren.

Am Mittwoch sind meine Sympathien klar verteilt. Wenn Deutschland gegen Holland spielt, ist mein Herz oranje. Was für eine wunderschöne Farbe, auch wenn ich es im Gegensatz zu vielen meiner Landsleute vermeide, mich in dieser Farbe zu kleiden. Es würde eh keiner sehen. Wenn es um Fußball geht, habe ich autistische Züge. Ich bin dann am liebsten allein. Ich will keine Sekunde verpassen, nicht abgelenkt werden, keine Antwort geben müssen, nicht trinken, nicht essen. Ich will sogar sehen, in welche Richtung das Gras wächst. Public Viewing? Nicht mit mir. Ich stehe auf Private Viewing.

So war es auch beim vielleicht größten Spiel zwischen Holland und Deutschland. Das WM-Finale 1974 habe ich allein in meinem Wohnzimmer gesehen. Noch heute erinnere ich mich an fast jede Szene, ich sehe noch die Zeitlupen vor mir. Ich fühlte mich damals nicht betrogen und heute auch nicht. Natürlich war der Elfmeter für Deutschland fragwürdig, und viele Holländer diskutieren die Szene heute noch leidenschaftlich. Herrlich finde ich das. Ich liebe diese Diskussionen - aber eben erst nachher. Damals schwang in den Debatten aber immer noch etwas anderes mit. Ein Spiel gegen Deutschland war mehr als Fußball, es war auch immer ein wenig Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Ich bin jetzt 67 Jahre alt und noch in diesem Krieg geboren worden. Meine Eltern haben, solange sie lebten, über diesen Krieg gesprochen. Bei jedem Familienfest - ob Hochzeit, Taufe, Geburtstag, Beerdigung - landeten wir irgendwann bei diesem Thema. Der Krieg wurde noch viele Jahre lang in den Sport übertragen. Entsprechend überladen waren die Begegnungen mit Deutschland.

Dies hat sich gewandelt. Wenn ich heute mit jungen Leuten über den Zweiten Weltkrieg spreche, ist der für sie so weit weg wie für mich Napoleon. Insofern hat sich in den vergangenen 30 Jahren sehr viel zum Positiven geändert. Die Zeit hat ihren Anteil daran. Aber auch die Bemühungen der deutschen Regierungen und der Sport sowieso. Das Deutschland-Bild in Holland hat sich in den jungen Generationen komplett geändert. Die Deutschen sind kein Feindbild mehr. Sie sind wie Frankreich, Dänemark oder Belgien.

Das gilt auch für den Fußball. Natürlich ist das Aufeinandertreffen ein Klassiker, dem das ganze Land entgegenfiebert. Es gibt aber keinen Hass. So etwas wie Rijkaard gegen Voller von 1990 ist kein Thema mehr. Ich sehe in meinen Erinnerungen zwar noch etwas durch die Luft schweben, die Rivalität von einst ist aber rein sportlich geworden. Im Champions-League-Finale der Bayern gegen Chelsea war mindestens die Hälfte der Niederländer für die Bayern. Nicht nur wegen Arjen Robben, sondern weil wir es mit der Mannschaft halten, die den besten Fußball spielt. Und das waren die Bayern.

Wird es auch am Mittwoch die deutsche Mannschaft sein? Als Holländer darf ich das ja eigentlich gar nicht sagen, aber wir haben sehr großen Respekt vor der neuen deutschen Mannschaft. Die spielt nämlich mittlerweile echt Fußball, da staunen wir. Euer Spiel ist galanter geworden, es hat eine ganz neue Qualität. Und was uns ein bisschen wehtut:
Die deutsche Elf spielt manchmal holländischer als die holländische Mannschaft. Die ist zuletzt ja nicht immer durch Schönheit aufgefallen. Besonders der grobe Auftritt im Weltmeisterschaftsfinale 2010 gegen Spanien hat vielen nicht gefallen. Diese Härte tat uns allen weh. Das ist nicht unser Stil.

Wir glauben an etwas anderes: Gewinnen ist wesentlich, aber wir wollen schön gewinnen. Oder anders ausgedrückt: Lieber schön verlieren als blöd gewinnen! Das hat etwas Naives, aber wir stehen dazu. Und es gibt auch Deutsche, die daran glauben. Einmal saß ich nachts um drei mit Boris Becker in einer Züricher Hotelbar, und wir plauderten über dieses Thema. Er sagte, dass er immer versucht habe, den Ball auf die Linie zu setzen. Das sei am schönsten und für den Gegner am schwierigsten. Natürlich gibt es das Risiko, dass der Ball ins Aus geht. Aber das habe er eben in Kauf genommen. Becker wollte spektakulär gewinnen. Genau wie wir Holländer.

In meinem Beruf ist es doch nichts anderes. Wir Künstler wollen die Leute verzaubern. Wir versuchen das Neue, Spektakuläre, das Schwierige. Wir wollen den ganz großen Applaus. Den gibt es nur, wenn die Vorstellung spielerisch wirkt. Wenn die vielen Mühen und Anstrengungen, die einer Vorrührung zugrunde liegen, unerkannt bleiben. Genau so sollte für uns Holländer Fußball sein.

Deshalb lieben wir Typen wie unseren Stürmer Robin van Persie. Ein Genie, aber auch eine Ballerina. Wenn alles stimmt, ist er einer der Besten der Welt. Aber dazu muss alles perfekt sein - Wind, Luftfeuchtigkeit, die Länge des Rasens, die Laune der Mitspieler. So einen tragen wir auf Händen. Einen Van Persie nennen wir einen Klassebak. Schwierig zu übersetzen: Phänomenal gut trifft es vielleicht.

Diese sehr romantische Einstellung zum Spiel hat uns zu guten Verlierern werden lassen. Natürlich ist die Sehnsucht nach einem Titel schon da, der bislang letzte liegt ja schon etwas zurück - 1988 war's. Ob du aber solch ein Turmer gewinnst, hast du nicht wirklich selbst im Griff. Schiedsrichterentscheidungen, Verletzungen, Wunderschüsse - es gibt so viel Unvorsehbares, was die Spiele beeinflusst. Wir wissen darum und akzeptieren das. Wir fiebern mehr dem Fest entgegen als einem Pokal. Wenn wir gewinnen, freuen wir uns riesig. Und wenn es nicht klappt, kommen wir damit auch schnell klar. Nach der WM haben wir ein riesiges Fest für die Zweiplatzierten veranstaltet. Wir sind ein kleines Land. Dass wir so weit oben mitspielen, ist sehr akzeptabel.

Vielleicht reicht es ja auch diesmal fürs Finale. Ich habe da einen Traum: Holland gegen Deutschland im Endspiel, und Herman van Veen singt vor dem Anpfiff beide Hymnen. In Kanada durfte ich einmal die Nationalhymne vor einem Testspiel aufrühren. Das war wunderschön, ich hatte Gänsehaut. In Deutschland bin ich seit 40 Jahren Gast, ich habe die Sprache gelernt und werde im Herbst auf meine zehnte große Tournee gehen. Beide Hymnen singen zu dürfen, wäre wunderbar. Bei der EM ginge das aber nur, wenn sich beide Mannschaften im Finale wieder treffen würden. Denn wie Sie wissen, bin ich am Mittwoch ja in Wien.


Der Niederländer Herman van Veen ist ein künstlerisches Multitalent: Der 67-Jährige malt, musiziert, schreibt, singt und beackerte viele Jahre lang den rechten Flügel seines Heimatvereins. Im Herbst geht er auf Tournee durch 22 deutsche Städte.