Herman van Veen
SH am Sonntag
Rumpelstilzchen
25 sept 2011

In der fünften Klasse gingen wir zu einer Schulvorstellung ins alte Tivoli. Das stand damals schräg gegenüber der Utrechter Schouwburg auf dem Lucasbolwerk. Ich habe noch ein Foto davon. Ein rappelvoller Saal mit schreienden Kindern, die zusammen noch mehr Lärm machten als in einem Hallenbad. Dort musste man ja, um nicht zu ertrinken, doch ab und an den Mund halten.
Ich hatte mein Allerbestes gegeben, um dafür zu sorgen, dass ich neben Dineke Lagendijk sitzen würde. Ich war verliebt. Dineke trug, genau wie Schneewittchen in dem Disneyfilm, ein rotes Samtband in ihrem Haar. Ich fand Dineke sogar noch viel schöner. Beinahe wäre der Plan gescheitert, weil nämlich Gerard auch ein Auge auf sie hatte. Nach einem mahnenden „Jungs, hört endlich auf mit dem Gerangel!" durch Schulleiter Mok, war ich es aber, der nach viel Gezerre und Geziehe mit weißen Fingerknöcheln neben dem Stuhl von Dineke übrig blieb.
Das Saallicht ging aus. Das Gekreische wurde schlimmer. Ein großer runder Spot erschien auf dem Bühnenvorhang. Eine Hand kam zum Vorschein, gefolgt von einem Arm, an dem ein dünner Mann in einem hautengen Anzug steckte, so schneeweiß wie sein Gesicht. Er trug einen. queren Hut, einen schwarzen. So einen, wie ihn Napoleon Bonaparte auf dem Bild in einem Buch meines Vaters trug. Der dürre Mann machte aus dem Nichts einen Sprung und noch einen, verbeugte sich dann vornehm.
Während er so tat, als ob seine Hand ein Schmetterling sei, aus dem ein Finger wuchs, wurde der Saal mucksmäuschenstill und der fremde Mann sprach: „Guten Tag, Jungen und Mädchen, mein Name ist Scapino. Wir werden für euch ein Märchen tanzen. Und das Märchen geht so." Eine Stunde lang schaute ich ge| bannt von meiner Stuhlkante aus den Erlebnissen einer Müllertochter und eines unheimlichen Zwerges zu, der wie ein lebender Stumpf aussah und tanzte, als ob seine Füße glühen würden.

Ein garstiger Kerl, dessen Namen niemand kannte. Ich sah, dass die Müllerstochter ihr Baby an das un heimliche Männlein geben sollte, weil sie das versprochen hatte, und auch, dass in allerletzter Minute doch noch alles gut ausging, weil das Mädchen mit einer List heraus bekommen hatte, wie der gemeine Zwerg hieß. Das war zuerst ein großes Geheimnis, aber am Ende der Vor; Stellung nicht mehr.

Als der Vorhang fiel und sich die Tänzeranschließend verbeugten und Blumen bekamen, vergaß ich, mit den anderen Kindern zu klatschen. Starrte nur auf die große Bühne. „Ich werde so ein Tänzer!", muss ich wohl laut gesagt haben. „Dafür musst du aber schwul sein", sagte mein Freund Max. „Okay. Dann werde ich das." Ich konnte noch nichts damit an fangen. Wusste ja nicht, was das war.



Herman van Veen (66) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.