Herman van Veen
SH am Sonntag

Überbleibsel


13 nov 2011

In den Niederlanden wurde in den vergangenen drei Jahren ein Postamt nach dem anderen geschlossen und über zweitausend Mitarbeiter mussten sich eine andere Arbeit suchen. Für Postangelegenheiten müssen die Menschen nun mit 2600 PostNL-Schaltern in Primera und Bruna Buchläden zurechtkommen.


, Melden Sie den Verlust Ihres Sparbuches bitte direkt bei dem Amt, bei dem Ihre Unterschrift und die des Direktors der Reichspostsparbank hinterlegt ist.'
Dies lese ich hinten im alten Sparbuch meines Vaters, Serie 93-71983. Betrag des Guthabens: 10 Gulden und 99 Cent.

Wie ein mürrischer Palast dominiert das Art-deco-Gebäude aus dem Jahre 1924 den Platz in der Utrechter Innenstadt. Die schwarzen Ornamente der Halle sind aus dem berühmten belgischen Kalkstein gehauen. Fünf Gebildhauerte Figuren stellen die fünf Kontinente dar. Die beiden hellgrauen steinernen Löwen oberhalb der Treppe vor der Tür wurden von den Utrechtern gespendet, denn noch bevor das größen wahnsinnige Gebäude fertig war, war das Geld vom Reich schon alle.

Ich sehe mich noch an der Hand meines Vaters die würdevolle Treppe hinaufsteigen, um in dem riesigen Postamt zehn silberne Gulden auf sein Sparbuch einzuzahlen. Für Kinderaugen war die Halle des Postamtes die von einem geheimnisvollen Palais. Unzählige Schalter, an denen große Leute Geld holten oder brachten sowie ihre Ansichtskarten, Briefe oder Päckchen. In dem Postamt informierte sich mein Vater, wie das neue Steuer-Formular auszufüllen sei. Man konnte dort wegen allen möglichen Fragen hingehen, zum Beispiel, wenn man was über das Wunder Telefon wissen wollte.

Las in der Zeitung, dass auch unser Postamt auf der Neude in Utrecht geschlossen werden soll. Das vertraute Gebäude bekommt eine andere Bestimmung. Gastgewerbe und Geschäfte. Ich finde das traurig. Nie wieder wird dort ein Frauchen auf ein Paket aus Indonesien warten, nie wieder jemand eine Handvoll Groschen auf ein Sparbuch einzahlen. Kein Junge wird mehr Ersttagsbriefmarken für seine Briefmarkensammlung kaufen, niemand wird mehr ein Telegramm nach New York versenden: „Vermisse dich. Komme Weihnachten nach Hause." Kein Vater wird dort mehr fragen, wie er das Kleingedruckte auf dem verdammten Steuerbescheid interpretieren soll. Keine Postsäcke mehr auf Lieferfahrrädern, kein Dingdong in der Halle: Überbleibsel
„Telefon für Jan Frederik Albertus van Veen in Zelle 52, bitte!" Niemand wird mehr in diese prachtvolle Halle gehen, um Schutz vor dem Regen zu suchen, ein Schwätzchen zu halten oder sich unter der großen Uhr zu verabreden. Keiner wird dort mehr auf ein Lebenszeichen aus der Fremde warten, wo ihre Lieben hinzogen, um zu kämpfen.

Mit der Schließung des alten Postamtes in Utrecht verschwindet ein liebgewordener Absender. Unser Postamt war lebendige Geschichte. Lebendige Geschichte, die Fortbestand rechtfertigte.



Herman van Veen (66) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.