Schleswig Holstein Journal
Teil 1
"Bevor ich es vergesse" 12 maart 2010

"Bevor ich es vergesse"

Lesen Sie in der Wochenendstory exklusive Vorab-Auschnitte aus der Autobiographie von Herman van Veen

Herman van Veen: Weltbekannter Sänger, Violinist, Schriftsteller, Komponist und geistiger Vater der berühmten Zeichentrickente Alfred Jodokus Kwak. Außerdem schreibt der nieder- ländische Künstler exklusiv für unsere Sonntagszeitung die Kolumne „Sonntagsgedanken". Am 28. April kommt van Veen für eine Vorstellung nach Flensburg (ausverkauft).



Teil 1


Die Geburt


„Hatte ich dir schon von damals erzählt, als dein Vater geboren wurde?", fragt meine Mutter meinen kleinen Sohn, der mit verwunderten Augen seine gerade geborene Schwester anschaut. „Und weißt du, wie schwer er war?"

Krieg. Vierzehnter März 1945. Frühmorgens Viertel nach drei. Trotz des Ausgangsverbots sprang mein Vater auf sein Fahrrad. Und trat in seinen Knickerbocker so schnell wie er konnte in die Pedalen seines Fahrrads. Hinten auf dem Gepäckträger hoppelte meine Mutter im Damensitz, ihrer- Anr. um seine Taille gedrückt. Sie fuhren über den Singel, durch Wijk C, überquerten das Paardenveld, bogen nach der Brücke links ab.

HALT... Ein Auto hielt an. Eine Tür geht auf. Ein deutscher Soldat stieg aus. „Wo fuhren über den Singel, durch Wijk C, überquerten das Paardenveld, bogen nach der Brücke links ab.

HALT... Ein Auto hielt an. Eine Tür geht auf. Ein deutscher Soldat stieg aus. „Wo fahrenSie hin? Sie wissen doch..."
„Meine Frau ist schwanger. Sie kann jede Sekunde niederkommen."
Der Deutsche lachte. „Schwanger?
Nicht von mir;... Fahren Sie weiter."

Mit klopfendem Herzen radelte mein Vater am dunklen Wasser des Catharijnesingels entlang zum Krankenhaus, half meiner Mutter vorsichtig die Treppe hoch, zum Eingang der Universitätsklinik. Auf der vorletzten Stufe platzte ihre Fruchtblase, kurz darauf wurde ich geboren, neun Pfund schreiendes Fleisch.

Als ich meinen Kopf zum ersten Mal aus dem Schoß meiner Mutter herausstreckte und die Welt erblickte, schien ich Utrechter zu sein. Von der Zeit, in der ich meine Mutter bekam, fällt mir nichts mehr ein. Vielleicht der Geruch süßer Muttermilch, an den ich erinnert wurde, als unsere Tochter zur Welt kam, das Piksen der Wangen meines Vaters, sein Husten im Flur, ein winziges Gummipüppchen in meiner Hand, das Schmusetuch, auf dem ich nuckelte, die Tapete, in der ich alles sah.


Kinderkrankheiten


Der Hausarzt mit dem unheimlichen Namen Dr. Schnitter zwängte mir ein Fieberthermometer in den Po.
„4l Grad. Er muss augenblicklich ins Krankenhaus. Hier können wir ihm nicht helfen."

Mein Vater lässt den Doktor hinaus. Er zieht mich danach aus dem Bett, wickelt mich in eine Decke ein, zieht mir die Wintermütze tief über die Ohren und trägt mich mit großen Schritten den ganzen Weg zum Diakonissenkrankenhaus.
Monate danach. Frühling 1952. Mein Vater gibt mir einen Briefumschlag. Erst wenn du nicht mehr weiter weißt, darfst du ihn öffnen. Welch merkwürdige Bitte. Versprochen? Versprochen! Er steckt den Briefumschlag in das grüne Buch „Das Pfeifkesselchen und andere Verse" von Annie M.G. Schmidt, eines meiner Lieblingsbücher.

Ich war sehr krank gewesen, beinahe gestorben. Penicillin und Doktor Sjamsoedin hatten mich gerettet. Meine Pobacken sahen aus wie zwei Nadelkissen. Das hatte nicht wehgetan. Die Diakonissinnen vom Krankenhaus spritzten ganz vorsichtig.
Auf dem Bahnsteig der Central Station in Utrecht standen noch ein paar Bleich- gesichter. Zusammen mit den fremden Kindern sollte ich zum Boshuis in Nun- speet op de Veluwe fahren. Einem Kinder- genesungsferienkolonieheim. Motto: Ru- he, Reinheit und Regelmäßigkeit.

Nachts hab ich leise geweint, damit es niemand hören konnte, außer dem lieben Gott. Der würde das ganz bestimmt mei- nem Vater und meiner Mutter erzählen, und die würden dann morgen kommen und mich abholen. Aber mein Flehen wur- de nicht erhört. Es war Gott offenbar schnuppe. Sollte ich den Briefumschlag aufmachen? Oder morgen?

Sonntags bekamen wir ein Ei, und die Kin- der, die an Gott glaubten, durften in die Kirche gehen. Gott war nicht mein Freund. Das fand ich ziemlich schade, denn in der Kirche zu singen, fand ich toll.
Papa und Mama stiegen aus dem Zug in Sonntagskleidern. Wir, die Blassnäschen, warteten auf dem Bahnsteig. Mein Herz sprang in meine Kehle. Ich hab mich an sie geklammert wie Efeu. Als sie weggingen, wollte ich nicht mehr leben. Wo war mein Pfeifkesselchen? Wo war mein Briefumschlag? Ich verstehe es noch nicht.

Am Tag meiner Abreise musste ich zum letzten Mal zu dem unheimlichen Arzt. Er fand, dass ich nicht viel zugenommen hätte und noch ein bisschen blass wäre. Er schlug vor, dass ich mich noch ein halbes Stündchen unter die Höhensonne legen sollte. Bevor mich mein Vater und meine Mutter abholen würden.

Zuhause packte Mama meine Reisetasche aus, sie fand das Pfeifkesselchen mit meinem Briefumschlag. Sie gab meinem Vater den Brief. Er sagte: „Mach mal auf, Junge. Hier."

Im Briefumschlag war eine Fahrkarte. Einfache Fahrt: Nunspeet-Utrecht.


Mercedes-Benz-Schlauch


Ich hörte meinen Vater die Treppe heraufpoltem und über den großen leeren Dachboden in mein Zimmer kommen. Früher gab es da oben vier Zimmer, aber das Holz und die Balken der anderen Zimmer wurden im Krieg verheizt. Es gab nur noch ein paar dicke Stützbalken, damit das Dach nicht einstürzen konnte, und ein paar dunkelrote Elektrodrähte, an denen mei Mutter im Winter die Wäsche aufhing. „Herman, aurwachen, es ist sechs Uhr. Wir fahren nach Katwijk. Beeil dich ein bisschen."
Kein Problem. Ich lag schon angezogen im Bett. 1954. Mein Vater, meine Mutter und meine beiden Schwestern und ich konnten im Lieferwagen des Gemüsehändlers mitfahren. Er musste zur Auktion in Leiden. Von da würden wir mit dem Bus nach Katwijk fahren, Katwijk aan de Zee.

Der Lieferwagen war proppenvoll mit leeren Gemüsekisten. Was für eine tolle Hütte hätte man damit bauen können. Nach etlichem Geschiebe und Gestapel fanden wir alle einen Platz. Außer meinem Mercedes-Benz-Schlauch. Der ging nicht mehr rein. „Dann fahre ich auch nicht mit", sagte ich.
„Dann bleibst du eben zu Hause", sagte meine Mutter. Ich fing an zu heulen. Es ging hoch her.
„Siehst du, er ist genau so dickköpfigwie du", sagte meine Mutter zu meinem Vater. „Wieso? Hab ich jemals einen MercedesSchlauch ..."
„Können wir?", rief der Gemüsehändler.
„Nein, noch nicht."
„Wieso? Hab ich jemals einen Mercedes-Schlauch ..."
„Herman macht Zicken. Er will nicht mit. Sein Schwimmring geht nicht mehr rein."

„Mein Mercedes-Benz-Schlauch", sagte ich wütend. „Ich kann schwimmen."
„Warum nimmst du dann verdammt noch mal so ein lächerlich großes Ding zum Aufblasen mit?"
„Das wird ein Schiff. Damit fahre ich nach Amerika."

Ich presste den Schlauch an mich. Ich hatte ihn eingetauscht gegen eine Serie gestempelte Erstausgaben, wofür ich in der Post Stunden angestanden hatte. Sie müssten mich von meinem Schlauch losschneiden. Der Gemüsehändler stieg aus. Riss den Schlauch aus meinen Armen, holte die Peter Stuyvesant aus dem Mundwinkel und brannte ein Loch rein. Dem Schlauch ging mit einem erstaunten Seufzer die Luft aus. Ich hätte den Gemüsehändler umbringen können. Ich hatte den Schlauch selber geflickt, aufblasen lassen und jetzt... „Jetzt könnt ihr alle beide rein.'

Am nächsten Tag ging ich zu einer Tankstelle mit einer Werkstatt, um meini Schlauch flicken und aufzublasen zu lassen. Ich durfte es wieder selber macht Danach ging ich direkt zum Strand.

„Hallo Schlauch, wo gehst du denn mit dem Kerlchen hin?", rief ein Badegast auf einem Fahrrad. Aus einem alten Ruder hatte ich einen Mast gemacht und aus Tischdecken ein Segel. Ich ging in meiner gestrickten Badehose an Bord meines Mercedesschiffs undfuhrin die Brandung. Den Wellen entgegen.

Uups, die sind größer, als ich dachte. Nein, die sind noch größer, als ich dachte. Die sind so groß wie ein Haus. Mein Schiff wurde hochgehoben, und ich flog durch die Luft. Und knallte mit dem Kopf gegen den Schiffsmast. Einheftiger Schmerz, eine seltsame Kraft zog mich nach unten. Ich schwamm so sehr, wie ichkonnte, aber ich konnte schwimmen, wie ich wollte, die Kraft war stärker als meine Beine. Ein Tintenfisch? Ein Hai? Der Nautilus? Finsternis. Ein grelles weißes Licht, eine Engelsstimme.
„Herre, aufwachen, es ist sechs Uhr. Wir fahren nach Katwijk. Beeil dich ein bisschen."
Ein Butterbrot mit Erdnussbutter, ein Butterbrot mit Anisstreusel, eine Tasse Tee, einen Löffel Lebertran, Zähne putzen.
Bevor wir in den Gemüselieferwagen stiegen, ließ ich die Luft aus meinem Schlauch und stibitzte danach für alle Fälle die Stuyvesants aus der Manteltasche des Gemüsehändlers.