10 februari 2003 verscheen in de WESTFALENPOST

Schelmenstreich für eine verdiente Parteigängerin





Berlin.
Der deutsche Film sei besser als sein Ruf, hat Berlinale-Chef Dieter Kosslick vor Beginn des Festivals formuliert. Das klang wie eine Plattitüde, ein Stehsatz, der immer herhalten muss, wenn nichts mehr geht. Jetzt aber wissen wir, dass die Einschätzung stimmt: "Good Bye, Lenin!" und "Poem" bieten tatsächlich gutes Kino, made in Germany.

Die beiden Japaner, die neben mir in der Vorführung saßen, taten mir richtig leid: Während sich der halbe Saal vor Vergnügen kugelte, verstanden sie keine einzige Pointe und verfolgten sichtlich irritiert das Geschehen auf der Leinwand und im Parkett.

"Good Bye, Lenin!" ist eben ein durch und durch deutscher Film. Regisseur Wolfgang Becker ("Das Leben ist eine Baustelle") hat das brisante Thema der Wiedervereinigung als Satire mit melancholischen Untertönen wie einen Schelmenstreich inszeniert: Unmittelbar vor dem Fall der Mauer fällt eine Mutter und verdiente SED-Parteigängerin für acht Monate ins Koma. Als sie wieder aufwacht, ist der Osten schon fest in westlicher Wirtschaftshand. Um ihr die lebensgefährliche Aufregung zu ersparen, lässt der Sohn im Krankenzimmer die DDR-Vergangenheit noch einmal aufleben.

Ein schier irrwitziges Unterfangen, dass in seiner Umsetzung an Heinrich Bölls wunderbare Kurzgeschichte "Nicht nur zur Weihnachtszeit" erinnert. Doch Wolfgang Becker belässt es nicht beim bloßen Geschichts-Mummenschanz. Er interpretiert die Ereignisse mit umgekehrten Vorzeichen neu. So fliehen jetzt (für Mutters Seelenheil) die Kapitalismus-Geschädigten in den Osten, um hier ihr gelobtes Land zu finden. Die kranke Frau ist überrascht, aber ihr Weltbild bleibt bis zum Ende stimmig.

Es sind die vielen, vielen Details, die den Film so rührend komisch machen. Herrliche Schauspieler, Originalfilmdokumente von 1989/90 und erstaunlichste Requisiten aus einer verlorenen Zeit fügen sich zu einem Historienspiel, das nicht nur herrlich unterhält, sondern auch nachdenklich stimmt und berührt.

Siegchancen im Wettbewerb wird der Beitrag kaum haben, dafür ist das Theme allzu national ausgerichtet (siehe japanische Reaktionen). In unserer Kinolandschaft aber wird "Good Bye, Lenin!" seinen Weg hoffentlich mit großem Erfolg machen. Lange hat es nichts besseres mehr gegeben.

Und noch eine zweite deutsche Produktion verdient besondere Aufmerksamkeit. Ralf Schmerbergs ambitioniertes Projekt "Poem". Der Regisseur hat 19 Gedichte deutschsprachiger Lyriker in völlig unterschiedlichen Kurzfilmen hintereinander in Szene gesetzt. Von Goethe bis Bachmann und von Celan bis Hesse wird großes Nachdenken von prominenten Sprechern und Schauspielern präsentiert.

Klaus Maria Brandauer, Hannelore Elsner, Anna Thalbach, Hermann van Veen, David Bennent, Meret Becker und viele andere haben sich auf Schmerbergs ungewöhnliche Idee mit leidenschaftlichem Eifer eingelassen.

Zur Erklärung seiner cineastischen Gedichtinterpretationen sagt der Regisseur: "Mir ist klar geworden, dass die Lebens- und Sprachentwicklung sich zunehmend reduziert und banalisiert.

or allem die Figuren im Fernsehen haben immer mit mir geredet, als sei ich blöd. Poem ist daher für mich auch ein momentaner Kontrast zu ,Deutschland sucht den Superstar´. Denn letzteres bedeutet für mich eine weitere Beschleunigung des medialen Wahnsinns. Dieses gekünstelte Gelächter und blöde Gegrinse sind so falsch, dass man etwas dagegen setzen muss."

Tatsächlich muss man sich auf "Poem" einlassen. Es braucht Zeit, Geduld und Offenheit, um einmal einen Kinofilm als Gedichtsammlung erleben und genießen zu können. Dabei macht es die Vielfältigkeit der einzelnen Dramatisierungen nicht schwer, Ralf Schmerbergs Wunsch zu folgen: "Poem soll seine Zuschauer ermuntern, sich an Lyrik heranzuwagen. Ich bin nicht gelehrt. Ich werde jetzt nicht jeden Tag Poesie lesen. Aber sie wird doch ab jetzt ein Teil meiner Persönlichkeit werden."