Brigitte-Woman
Stephan Bartels

"Berlin war ein seltsames Raumschiff"

sept 2010

Gegenüber vom Berliner Dom ist Gras über die DDR gewachsen. Da ist eine gepflegte Wiese, wo früher ein Gebäude stand, normalerweise geht das andersherum. Und was für ein Haus das war, das Schaufenster eines sozialistischen Landes: der Palast der Republik, die Multifunk- tionsgalastätte der DDR. „Schon komisch", sagt Herman van Veen, „einfach verschwunden, nix mehr davon da." Er wandert ein bisschen auf dem Rasen herum, ein taufrisch wirkender Mann von 65 Jahren, ganz in Schwarz vom Sakko bis zu den Turnschuhen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf in der Luft, der September ist mild und blau. Van Veen ist mit seinen Gedanken in einer anderen Zeit, einer anderen Welt. „Dahinten könnte die Bühne gewesen sein", sagt er und nickt Richtung Spree. Hier hat er gesungen, vor etwa einem Vierteljahrhundert. Und nicht nur hier.

Er ist in den 80ern oft nach Ost-Berlin gekommen, um aufzutreten, eingeladen von einem Staat, der eigentlich vor Typen wie ihm Angst hatte. Und sie doch brauchte, um so zu tun, als sei man weltoffen. Davon möchte er heute erzählen. Nicht so sehr von sich. Mehr von diesem Land, das einem so seltsam erscheint, wenn man aus Holland kommt und ein Humanist ist und ein Clown und nichts so sehr schätzt wie einen freien, wilden Geist. Seine „Sentimental Journey" in das letzte Jahrzehnt der DDR ist sehr politisch. Sie wird ein paar Stunden dauern und knapp zwei Kilometer weit gehen, vom ehemaligen Palast der Republik Richtung Westen bis zum Brandenburger Tor. Seit 36 Jahren, sagt HermannusJantinus van Veen aus Utrecht, komme er nun schon nach Berlin. „Berlin war für mich immer etwas Besonderes, es hatte diese Narbe", sagt er, „und diese knallharte Grenze, das war surreal, sehr merkwürdig. Deshalb hat die Stadt für mich immer eine Schizophrenie gehabt: Dieses seltsame Raumschiff war krank und faszinierend zugleich."

Anfangs trat er nur im Westen auf, die erste Einladung in den Ostenbekam er 1982. Später lud man ihn zum „Festival des politischen Liedes" ein, bei dem er in der Werner-Seelenbinder-Halle vor 10 000 Menschen sang. Da hat sich die DDR die Welt in den Palast der Republik geholt, zumindest den sozialistisch denkenden Teil. „Und mich als Fremdkörper aus dem Westen", sagt van Veen, „ich bin hingegangen, weil ich neugierig war. Auf der Pressekonferenz vor dem Festival habe ich gesagt, dass ich gekommen bin, um einen kleinen Stein aus der Mauer zu singen. Ich dachte: Wenn ich das sagen kann und trotzdem singen darf, dann macht es für mich Sinn." Er konnte. Und durfte.

Trotzdem bat man ihn vor Konzerten, bestimmte Lieder nicht zu singen, er würde doch sicher die Lage verstehen... Sicher, sagte Herman dann und nickte und sang am Ende doch unerwünschte Lieder wie „Signale", in dem es heißt:

„Familien in Ost und West
die man nicht zueinander lässt
nur Wolken ungehindert ziehen
von Ost-nach Westberlin
Ist uns das heute schon egal
gebt jetzt ein Zeichen, ein Signal
dass Beharrlichkeit zum Ziele führt
und dass ihr Schicksal uns berührt."

Der Palast der Republik hat getobt nach diesen Sätzen, „eine Begeisterung, die kaum noch zu kontrollieren war", sagt Herman van Veen. Eigentlich hat die Mauer da schon gebröckelt, Jahre vor ihrem Fall.

Jetzt ist sie weg, genau wie der Palast der Republik. Schade, sagt van Veen, „der hätte nicht abgerissen werden müssen. Weil er Teil der Geschichte ist, Vergangenheit, die nicht verschwiegen werden muss. Der Palast der Republik stand für die DDR-Dekadenz. Er war der Beweis für eine Art von Denken, die pathetisch war. Wenn man so etwas abreißt, wird es eine Anekdote."

Er geht weiter Richtung Westen. Obwohl: Eigentlich federt er mehr, leicht und elastisch flaniert er den Vorzeigeboulevard Unter den Linden entlang. Er wird erkannt, viele lächeln ihn an. Er hat unglaublich viele Fans in Deutschland, immer noch, wer ihn mag, bleibt ihm treu, nicht wenige seit fast 40 Jahren, als er von Alfred Bioiek für das deutsche Publikum entdeckt wurde. Er ist so beliebt, weil er vielen tiefen Empfindungen Worte gibt, nach denen man selbst lang vergeblich fahnden würde. Deshalb halten ihn die meisten seiner Anhänger für einen sehr persönlichen Künstler. „Finde ich nicht", sagt van Veen, „ich erzähle zwar eins zu eins von mir und meinen Gedanken und Empfindungen, und manchmal mache ich Unsinn dabei. Dadurch wird es persönlich, aber genau genommen noch viel politischer. Ich mache meine Texte nicht, um zu unterhalten. Ich will mit ihnen etwas bewegen. Ich wäre nicht in die DDR zum Singen gegangen, wenn ich nicht die Chance gesehen hätte, einen Fußin die Tür der Veränderung zu bekommen." Und das, sagt er weiter, „ist sehr politisch".


Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße. „Da vom stand das Hotel ,Unter den Linden'", sagt van Veen und deutet auf eine riesige Baustelle, „da wohnten wir oft nach Auftritten." Einmal kam er sehr spät ins Hotel, duschte sich, ging ins Bett und dachte: Da ist doch was. Er sah sich im Zimmer um, fand nichts und legte sich wieder hin. Und dachte wieder: Scheiße, du bist nicht allein in diesem Zimmer. Manchmal weiß man so etwas einfach. Doch auch eine zweite Suchaktion blieb ergebnislos. „Ich war fast eingeschlafen, als ich plötzlich ein leises Husten hörte", sagt Herman van Veen, „unter dem Wandschrank sah ich im Dunkeln ein wenig Licht. Ich habe das Schrankinnere abgetastet und eine dünne Zwischenwand entdeckt." Die konnte er beiseiteschieben. Und da saß dann ein Mann auf einem Stuhl. „Er sah mich an und sagte:,Guten Abend.' Ich sagte ebenfalls:,Guten Abend', habe die Wand wieder vorgeschoben und herrlich geschlafen, es wurde ja auf mich aufgepasst", sagt van Veen. Und zwar ständig: „Ich war nie allein in der DDR, das habe ich immer gespürt. Da gab es immer irgendjemanden, der in meiner Nähe ein Buch gelesen und drei Stunden lang nicht umgeblättert hat." Das System, das ihn zum Vorgaukeln strukturierter Offenheit missbraucht hat, wollte auf gar keinen Fall die Kontrolle über Herman van Veen verlieren.

Ein paar hundert Meter weiter steht das deutscheste aller Symbole in dieser Stadt. Van Veen läuft auf das Brandenburger Tor zu, dutzende Menschen durchqueren es von beiden Seiten, viele bleiben davor stehen und lassen sich mit dem Bauwerk fotografieren. „Kaum zu glauben, dass hier jetzt so viele Leute aus aller Welt einfach so ohne Probleme durch das Brandenburger Tor laufen können", sagt er, „ich habe das auch einmal versucht. Allerdings, als die Mauer noch stand." Es war ein Sonntagmorgen in den 80ern, nicht viel los, und Herman van Veen dachte: Man kann doch mal einen Anfang machen mit dem Überwinden der Mauer. „Man hatte von Unter den Linden einen offenen Blick durch das Tor nach Westen", sagt er, „da habe ich gedacht: Ich gehe einfach mal auf die andere Seite. Und ich habe auch gedacht: Die werden mir doch nichts tun." Es sei so ein Gefühl gewesen, wie wenn man auf dem Dach eines Hochhauses steht und glaubt, man könnte einfach so ein bisschen herumfliegen und bei Bedarf auf dem Eiffelturm landen. „Ich bin keine 20 Meter weit gekommen, dann standen schon Soldaten mit bellenden Hunden um mich herum", sagt er, „das warbeängstigend. Die haben mich zur Seite genommen und gefragt, was ich denn vorhabe. Ich habe dann gesagt:
Ich wollte nur mal sehen, ob man durch das Brandenburger Tor laufen kann, ohne erschossen zu werden. Die haben mich gefragt, ob ich wahnsinnig sei. Ich habe geantwortet, dass ich die Tatsache, dass man nicht auf die andere Seite laufen kann, viel wahnsinniger finde."


Manchmal, sagt Herman van Veen, muss man den Mut haben, Dinge zu artikulieren, die zu groß zu sein scheinen für einen Einzelnen. Und man müsse Fragen stellen wie ein Vierjähriger. „Das habe ich getan, als ich durch das Brandenburger Tor laufen wollte: Warum darf ich hier nicht durchlaufen?", sagt er. „,Das müssen Sie meinen Vorgesetzten fragen', hat der Soldat gesagt. Der würde auch seinen Chef fragen müssen, der auch, und so weiter, bis man feststellt: In Wirklichkeit gibt es gar keinen Chef. Wir sind darauf gedrillt, Befehle auszuführen und nicht zu hinterfragen. Und damit endet die persönliche Verantwortung." Als die jungen Männer, die das Tor bewachten, dann mitbekamen, dass der Verrückte mit dem hübschen Akzent ein berühmter Sänger war, haben sie herzlich gelacht, und Herman van Veen durfte einfach gehen.

Die DDR und ihr Umgang mit den Menschen seien ein absurdes Konstrukt gewesen, sagt van Veen, „aber wir sind immer wiedergekommen. Wir waren damit beschäftigt, ein Loch zu bohren. Man kann die Welt nicht wirklich verändern, aber man kann etwas für jemanden bedeuten. Man kann eine Mauer nichtumsingen,abermankann ein kleines Stück von ihr kaputt singen. Man kann ein System kaputt dichten, kaputt malen, kaputt schreiben. Mit dem Unsinn, mit der Clownerie und der Musik versuche ich, ein anderes Licht auf diese Systeme zu werfen. Ich denke, wir Künstler haben unseren Beitrag dazu geleistet, dass das System am Ende implodiert ist."

Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Ein paar Tage später radelte ein Mann auf den Hof des Hauses in Holland, in dem Herman van Veen lebt. Der Mann hatte den ganzen langen Weg aus Leipzig mit dem Fahrrad zurückgelegt, in einem empfindlich kühlen November und nur, um Herman van Veen etwas zu geben. Einen Stein. Einen Stein aus der Berliner Mauer. Jenen Stein, den van Veen am Ende aus der Berliner Mauer herausgesungen hat.



Herman van Veen,
geboren 1945 im niederländischen Utrecht, ist ein Multitalent: Er komponiert, textet, singt, spielt Violine, ist ein begabter Clown und erfindet von Zeit zu Zeit legendäre Zeichentrickfiguren - zum Beispiel die Ente Alfred Jodocus Kwak. Seine Karriere begann in seiner Heimat schon 1965, in Deutschland wurde er Anfang der 70er durch seine gefühlvollen, einfühlsamen Lieder bekannt- und extrem beliebt. Doch van Veen ist auch und vor allem ein politischer Mensch, seit mehreren Jahrzehnten ist er ein engagierter Botschafter für Unicef und setzt sich weltweit für Kinderrechte ein. Herman van Veen hat vier Kinder und lebt mit seiner zweiten Frau in Soest bei Utrecht im südlichen Holland - wenn er nicht gerade mal wieder auf einer seiner ausgedehnten und stets ausverkauften Touren unterwegs ist. Zu Deutschland hat der Niederländer ein besonderes Verhältnis, für seinen Beitrag zur deutschniederländischen Freundschaft wurde van Veen 1999 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Besonders am Herzen liegt ihm die deutsche Vergangenheit - die für ihn „wichtigste Stelle Berlins" ist das Holocaust-Mahnmal nahe dem Brandenburger Tor, sagt Herman van Veen: „Dieses Mahnmal löst die festsitzende Trauer. Das, was hier steht, ist eine Chance, zu verarbeiten. Und es ist die Chance, solche Grausamkeiten wie den Mord an den europäischen Juden zu verhindern. Dieses Monument ist nicht Geschichte, es ist Realität. Es ist das Herz Deutschlands."