Tom R. Schulz schreef 3 december in Die Welt

Der Rosenkavalier aus dem Tulpenland



Riesenseele, Riesenherz: Herman van Veen verschenkte sich im CCH an sein Publikum Ein Mann kommt den Gang im CCH entlanggelaufen, eine langstielige Rose in der Hand. Er will sie dem Künstler auf der Bühne überreichen. Der geht einen Schritt auf den Blumenspender zu, macht dann aber auf dem Absatz kehrt und richtet sich erst einmal sein Haar, das ihm ziemlich trostlos links und rechts herabhängt und in der Mitte eine spiegelglatte Fläche frei lässt. Man will ja schließlich ein bisschen künstlerisch genial aussehen bei so was. Mit hinreichend verwuscheltem Resthaar eilt er also erneut auf den Mann mit der Rose zu, nimmt sie mit einer Verbeugung entgegen - und rupft ihr die Blütenblätter aus.

Die ersten überreicht Herman van Veen der wunderbaren Konzertgitarristin Edith Leerkes. Dann wendet er sich Wieke Garcia zu, seiner Trommlerin, Drehleierspielerin, Harfenistin, Sängerin. Danach ist Jann dran, ein blonder Engel mit Geige und einem starken Sopran. Auch der Bassist Thomas Dirks bekommt Rosenblätter, und zum Schluss Erik van der Wurff, der Klavierspieler mit dem Ziegenbart, der van Veen schon seit Menschengedenken begleitet. Als alle beschenkt sind, hält Herman die leere Rose in der Hand. Sie ist alles, was ihm bleibt. Mehr braucht er nicht mehr.

Von einem guten Komödianten darf erwartet werden, dass man bei ihm Tränen lacht. Von einem guten Sänger darf erwartet werden, dass er unser Herz berührt. Van Veen gelingt beides - und schafft es an diesem Abend mehr als einmal, dass uns plötzlich das Wasser auch dann in den Augen steht, wenn es gerade überhaupt nicht lustig ist.

Herman van Veen, inzwischen 56 Jahre alt, ist wie ein Stern, der sich in aller Ruhe selbst abgeschaltet hat. Er arbeitet an der eigenen Entbehrlichkeit. Dieser Mensch, dem sein Körper noch immer so beneidenswert genau gehorcht, dass ihm eine hinreißende Parodie auf den afrikanischen Tanz gelingt, entfaltet auf der Bühne eine immer metaphysischer werdende Präsenz. Nicht genug damit, dass er vor Tausenden von Leuten eine Privatheit erzeugt, als säße jeder Einzelne von uns mit ihm beim Tee. Vor allem spürt man, dass da eine Riesenseele blüht, ein Riesenherz.

"Das Vermögen, das ich besitze, ist die Erinnerung an meine Eltern." Ein Glückskind, wer zum Stichwort "Kapital" nur diesen einen Satz notiert. Herman van Veen hat im vergangenen Jahr seinen Vater verloren, und seine Tochter hat ihn erstmals zum Großvater gemacht. Möglich, dass im erlebten Stirb und Werde in seiner Familie der Grund für die Gelassenheit, auch für die Trauer liegt, die diesen großen Komödianten neuerdings umgibt. In seinem Programm "Was ich dir singen wollte", mit dem van Veen zurzeit in Norddeutschland unterwegs ist, erzählt er aus seiner Kindheit und Jugend. Er liest die Geschichte vom ersten Besuch des Achtjährigen mit seinem Vater im Badehaus, er lässt erste Lieben Revue passieren und, in einem wunderbar aufrichtigen Lied, die Trennung von seiner ersten Frau. Van Veen singt und spricht auch viel vom Tod und scheut sich nicht vor Sentiment - sentimental wird er nur im Lied über die Mutter.

Dass ihm das Älterwerden den Schalk nicht ausgetrieben hat, zeigt Herman van Veen mit einer zauberhaft dreisten Persiflage aufs Musiktheater. "Wie prächtig könnte die Oper sein, wenn es keine Sänger gäbe", sagt er in seinem holländisch eingefärbten, weichen Deutsch. Und dann durchsingt und durchleidet er unter Ausnutzung aller denkbaren Nuancen des Genres die schlichte Zeile "Er hat mich erstochen!". Das exaltiert-dramatische Opernwesen vom Sopran über den Chor bis zum Ballett: Hier wird's Ereignis.

Noch immer beherrscht Herman van Veen die Temperierung des Wechselbads der Emotionen, in das er sein Publikum taucht. Erst erzählt er einen Witz: "Warum guckt eine jüdische Mutter Pornofilme immer bis zum Abspann? - Weil sie hofft, dass die beiden am Ende doch noch heiraten." Sofort danach singt er "Ne me quitte pas" auf jiddisch, "für alle, denen diese ermordete Sprache fehlt".

Am Ende gibt es noch einmal Rosen, für jeden Musiker eine. Herman hat seine ja schon bekommen. Er holt die blütenlose Rose von vorhin und stellt sich zu seinem Ensemble. Dann läuft er mit der Geige in der Hand in den Saal hinein, spielt, schüttelt Hände, verweilt. Ein Star ohne Angst vor der Menge, ohne Allüre. Jeden, den er ansieht, sieht er auch. Herman van Veen gelingt etwas sehr Kostbares: er verschenkt sich im Überfluss, ohne sich zu verausgaben. Das Strahlen, das von ihm ausgeht, wird noch Lichtjahre brauchen, bis es verlöscht.

Weitere Termine: 6. Dezember Braunschweig, 7. Dezember Hamburg, 8. Dezember Lübeck