Ralf Lilienthal schreef in A Tempo van december 2005




Du brauchst einen Plan!


Herman van Veen - Entertainer und Sänger, Clown und Musiker, Autor und engagierter Streiter für die Rechte der Kinder. Schon wer dem niederländischen Künstler in Musikkonserven oder zwischen Buchdeckeln begegnet, wird von seiner Vitalität mitgerissen. Dem "wahren Herman" begegnet man aber auf der Bühne. Ob 350 Zuhörer im Pavillon der Essener Philharmonie ("Windekind") oder reichlich 1800 Menschen im weiten Saal des Bochu.mer "Ruhr-Congress" ("Hut ab") - Herman kriegt sie alle! Und noch während eines Interviews bedauert man, dass nur ein Bruchteil des Gesprächs schwarz aut weiß gedruckt werden kann.

Ralf Lilienthal
Sie haben in diesem Jahr ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert. Unabhängig von dem Jubiläum selbst: gibt es so etwas wie einen Gewinn des Alters, eine Erfahrung, einen Fähigkeitsgewinn, den Sie als allgemeine Folge des Älterseins erleben können?

Herman van Veen
Ich bereite gerade ein Buch vor, das Moment heißen wird. Man erinnert sich an Momente. Du bist 60 Jahre alt und es scheint manchmal so, als ob diese Jahre vielleicht 60 Sekunden waren. Es flitzt. Man hat Assoziationen. Du siehst eine Farbe und denkst im gleichen Moment: "Acht Jahre alt. Schlafzimmer. Bettdecke." Wenn man älter wird, kriegt die Zeit selbst eine völlig andere Bedeutung. Du hast weniger Zeit vor dir, als du früher hattest, obwohl du das früher gar nicht realisieren konntest. Das ist nicht besser oder schlechter, das ist einfach anders. Auch auf der Bühne ist es mehr und mehr von Moment zu Moment, zu Moment. Man kann es morgen nicht wiederholen und es gibt kein "Übermorgen in Amsterdam". Es ist immer nur heute. Wenn man jünger ist, dann hat man eine andere Eile. Die Geschwindigkeit geht jetzt vielleicht vertikal, nach oben und unten, ohne dass es sich nach links oder rechts bewegt. Ich finde das sehr interessant. Und sonst? Wenn ich in der Bar all diese Flaschen sehe, dann bin ich eigentlich nur noch an einer interessiert, weil ich gelernt habe, welche ich gerne mag. Ich brauche das alles nicht mehr auszusuchen.

RL
Es gibt inzwischen sehr viel Gestern in Ihrem Leben. Wie bewusst und planvoll gehen Sie Ihr Morgen an?

HVV
Du brauchst einen Plan! Das ist gut für deine Gesundheit, weil dann dein ganzes System sagt: "Ich bereite mich auf diese Entscheidung vor! Wenn du keinen Plan hast, dann wirst du depressiv, dann tauchst du in dir selber rum. Guck dir Arbeitslose an, die keinen Plan haben dürfen! Wenn ich in Gedanken irgendwo hingehe, bin ich ja eigentlich schon weg. Wir fliegen viel. Ich habe ein Ticket gekauft, d.h. ich bin einverstanden damit. Ich werde schon unruhig. Edith und ich arbeiten an einer Tournee für den Herbst 2007 in den Vereinigten Staaten. Also gucke ich mit Argusaugen alles an, was sich dort abspielt. Ich will verstehen, was in New Mexico ist, ich lese jetzt über New Mexico, weil ich weiß, ich gehe dahin, weil ich weiß, ich bin schon teilweise dort.

RL
Am Anfang Ihrer Künsderlaufbahn, als sie angefangen haben sich zu orientieren, gab es auch damals schon so etwas wie einen Plan, eine Ahnung des künftigen Weges?

HVV
Ich glaube, dass du zuallererst dem nachstrebst, was die Eltern oder dein Milieu angelegt haben.Was mein Vater und meine Mutter wichtig fanden, war mir auch wichtig. Wenn mein Vater von etwas begeistert war, dann wollte ich an dieser Begeisterung teilhaben. Meine Mutter war eine sehr soziale Frau, sehr interessiert an anderen Menschen, und mein Vater mochte unheimlich gern schöne Anekdoten. Er konnte phantastisch erzählen - und wenn der Krieg nicht gewesen wäre, wäre mein Vater vielleicht Schauspieler geworden oder Geschichtenerzähler. Und ich habe das mit mir genommen, bin das geworden: Ich bin mein Vater geworden! Ich bin geworden, was sie gepflanzt haben. Ich war ihr Kind und diese zwei Dinge habe ich von ihnen. Das Interesse, das ich habe, Dinge zu unternehmen, damit es Menschen besser geht - das ist meine Mutter. Und das Unterhalten, Schreiben, Ausdenken, Organisieren - das ist mein Vater. Ich hab diese zwei Aspekte sehr klar in mir. Ich hab daraus eine eigene Person gebaut, eine eigene Identität. Ich bin zwei Personen, die einander immer wieder begegnen und daraus ist eine neue These entstanden und die heißt "Herman".

RL
Gibt es darüber hinaus etwas unverwechselbar Eigenes, etwas, worin Sie gewissermaßen Ihr eigenes Kind sind?

HVV
Ich kann Entscheidungen treffen, die meine Eltern nicht treffen wollten. Ich wollte nicht abhängig sein, während nieine Eltern es akzeptiert haben, dass sie abhängig sind. Natürlich bin ich immer auch abhängig, aber wenn ich etwas im Kopf habe, dann gehe ich und tue es auch. Selbst wenn ich weiß, dass es vielleicht nicht so vernünftig ist. Ich brauche die Erfahrung, ich muss das Gehen gehen, ich muss das Singen singen. Ich kann da nicht theoretisieren, ich muss es einfach tun. Und ich bin sehr praktisch. Das hatten meine Eltern nicht. Ich muss unternehmen. Ich kann nicht auf ein Telefonat warten: Vielleicht ruft er an oder er ruft nicht ...? Nein, ich rufe an! Man lädt mich nicht in dieses Theater ein? Dann miete ich es! Sie wollen es nicht vermieten? Dann such ich jemanden, der es kauft! Es soll stattfinden, weil dieses Lied Erfahrungen braucht! Es ist vielleicht nicht das beste Lied, aber es braucht Wasser, Licht, es braucht Finsternis. Ein Lied muss gesungen werden, es darf nicht abhängig sein von Telefonaten. Ich will verstehen durch Erfahrung, nicht durch Theorie. Ich bemühe mich, überall zu verstehen. Warum ist der eine Baum krank und der andere 2ü Meter weiter nicht? Ich will nicht weitergehen, ohne mich zu bemühen zu verstehen. Ich kann nicht sagen: Ja, das ist einfach so ...!

RL
Welche weiteren Fähigkeiten und Qualitäten haben sie vor ihren Wagen gespannt, um der Herman van Veen zu werden, den das Publikum heute kennt?

HVV
Ich habe vor allem das große Glück, dass ich gesund bin. Es ist ein genetisches Geschenk. Ich bin 60 und ich spüre noch keinen Unterschied. Ich sehe, dass ich älter bin, ich weiß es, aber ich spüre es noch nicht im Körper. Das ist phantastisch. Es hat auch damit zu tun, dass ich in diesem unregelmäßigen Leben scheinbar doch ein System aufgebaut habe, das nicht allzu ungesund ist, obwohl die Verlockungen, sich hängen zu lassen, ziemlich groß sind. Ich habe meinen Schlaf, esse und trinke keine idiotischen Dinge und vor allem renne ich nicht mit einem Koffer voller ungelöster Probleme herum. Ich kann auch keine Konflikte mit Menschen haben. Ich kann das nicht schimmeln oder verrotten lassen. Ich arbeite wie ein Idiot daran, ein Problem loszuwerden. Ich plaudere mich dafür schief. Es kann ein paar Jahre dauern, bis ein Problem gelöst ist, aber es muss bis zum letzten Komma ausgesprochen werden, sodass wir wieder weitergehen können.

RL
Gibt es in Ihrem künstlerischen Werk ein zentrales Motiv? Ein Thema, das immer wieder an die Oberfläche drängt?

HVV
Der zweite Weltkrieg! Ich habe 23 Jahre meines Lebens mit meinen Eltern gelebt und bin durch sie immer wieder mit diesem Krieg konfrontiert worden. Das hatte einen enormen Einfluss auf mein Leben. Dass Menschen Menschen so etwas angetan haben. Dass Menschen in der Lage sind, Menschen zu vernichten, eigentlich sich selbst zu vernichten. Das macht mich ratlos, weil ich weiß, es ist in uns. Und der Pfad, den wir zwischen Licht und Finsternis gehen, ist besonders schmal - man kann die Finsternis nicht ausschließen und nicht das Licht. Man darf seine Augen nicht verschließen vor der Gewalt des Lichts und der Finsternis.Wir haben es gesehen, meine Eltern haben es am eigenen Leib erfahren, ich habe es gesehen. Auch wenn ich auf die gegenwärtige weltpolitische Situation schaue: Vieles ist noch immer das Resultat von dem, was sich damals abgespielt hat. Der Krieg ist vielleicht faktisch vorüber, aber es ist erstaunlich, dass intelligente Menschen immer wieder die gleichen Fehler machen. Der dritte Weltkrieg, der jetzt stattfindet, der nur nicht aussieht, wie die ersten beiden, weil die Schlachtenopfer still fallen - ich finde es unbegreiflich, dass die Menschheit in der Lage ist, das zu akzeptieren.

RL
Sie selbst haben niemals nur akzeptiert. Das zeigen Ihre Lieder und Texte. Das zeigen aber auch Ihre vielen praktisch helfenden Projekte und Stiftungsinitiativen. Welche Schwerpunkte setzen sie dabei?

HVV
Ich versuche, wo das möglich ist. Kinderrechte zu artikulieren, um dann in kleinen, wirksamen Projekten Beispiele zu geben. Kinder haben das Recht auf Bildung? Also machen wir mit unseren Stiftungen z.B. eine Schule aufBali und erklären dann: "Guckt mal , das kann man tun!" Man soll nicht aufhören zu staunen und zu träumen, dass es besser geht. Aber man muss seinen Idealen Hände geben. Man sollte nicht in der Poesie wegfliegen, sondern echt buchstäblich etwas unternehmen. Und das tun wir.

RL
Und die Poesie selbst. Ihre Bühnen-Kunst -was ist das Beste, das Sie Ihrem Publikum damit geben können?

HVV
Geigenspiel ist konstruktiver, als mit dem Gewehr zu schießen. Harry Mulisch hat gesagt: "Hoffnungsvoll ist ein Mädchen und ein Cello". Das sehe ich auch so. Kunst kann nicht schaden. Sie ist konstruktiv, statt destruktiv. Ich bin Unterhalter, das ist mein Beruf. In einem meiner wichtigsten Lieder singe ich: "Herr, lass die Menschen wieder sehen". Ich sehe, was ich singe, und wenn es gelingt, visualisieren die Leute, die da sitzen, das auch. Das besorgt uns kollektive Gänsehaut. Es kann ein Ton sein auf deinem Instrument. Das kann so passen, dass es bei all den Leuten im Saal auch passt.

RL
... und bei den anderen Musikern.

HVV
Ja. Ab und zu passt ein Geigenton so phänomenal zu dem, was das Akkordeon macht - eine Begegnung von Klängen. Oder sechs Musiker spielen und alle kommen genau auf einem Punkt zusammen - das ist auch eine Sprache, ein Gespräch, das stattfindet, und man weiß nie, wie und wann das geht. Es ist ein Abenteuer!

RL
Wie viel Zeit lässt die Bühne dem Privatmann Herman vanVeen übrig?

HVV
Ich spiele 120 Konzerte im Jahr. Aber sonst bin ich unwahrscheinlich gerne zu Hause und wenn du bei mir zu Hause bist, verstehst du auch, dass sich da etwas abspielt. Das ist für mich auch ein Lied. Und mein Garten ist mein schönstes Lied. Ich habe noch nie ein so schönes Lied gesungen, wie mein Garten eines ist.

RL
Wenn Sie am Lebensende um einige weitere Jahre verhandeln könnten, wie würden Sie dann argumentieren?

HVV
Ich würde nicht verhandeln. Gesundheit ist etwas, worauf man großen Einfluss nehmen kann. Viel mehr, als man wahrhaben will. Ich würde nicht verhandeln. Außerdem gibt es niemanden da oben oder da unten, mit dem man verhandeln kann. Kein Mensch weiß, was ihn nach seinem Tod erwartet - und das ist gut so. Die Aufgabe ist: zu tun "and see what happens!"