Giselan Nauck schreef in juni 1982 in Musik und Gesellschaft
Politisch progressive Unterhaltungskunst mit Herman van Veen
An zwei Abenden Anfang April begeisterte Herman van Veen aus den Niederlanden
Tausende von Jugendlichen im Großen Saal des Palastes der Republik, provozierte sie
zu gespanntem Zuhören, aber auch zum Mitsingen und sogar Tanzen. Wer ist dieser
37jährige, hagere und sympathische Mann, den der Rundfunk der DDR für
das DT-64-Jugendkonzert "Ich hab ein zärtliches Gefühl" und einen Gala-Abend
am nächsten Tag eingeladen hatte? Und was ist das Besondere, Bezwingende an
seiner Kunst und seinem Auftreten?
Herman van Veen, Sänger, Musiker und Komponist,
Schau-spieler, Parodist, Pantomime, Chansonier, Lehrer, Erzieher, Conférencier und
in allem ein streitbarer Humanist, der sich selbst als Clown ohne Maske bezeichnet,
studierte am Konservatorium in Utrecht Musikpädagogik, Geige und Gesang. Seit dieser
Zeit erarbeitete van Veen satirische, sozialkritische Theater-Pantomimen-Programme,
deren Grundlage chansonhafte, klassische "ernste" und auch Rock-Musik bildet, und mit
denen er aufrütteln, "Energie, positive Energie und positive Kollektivität"
vermitteln will. Außerdem engagiert er sich seit 1968 als Vertreter der
niederländischen Jugend in der UNICEF (Internationaler Kinderhilfsfonds der UNO)
und arbeitet seit 1977 in der Entwicklungshilfe-Organisation für Länder der
Dritten Welt "Colombine", die er gemeinsam mit Freunden ins Leben gerufen hat.
Auch das abendfüllende Programm im Palast der Republik - übrigens sein erstes
Gastspiel in einem socialistischen Land -, das Herman van Veen mit seinen Musikern
Erik van der Wurff (elektronische Tasteninstrumente, Klavier), Henk Zomer (Saxophon)
und Cees van der Larse (Baß) singend, Geige-, Klavier-, Mundharmonika spielend und
szenisch aktionsreich gesteltete (als exzellenter Pantomine), Schloß Sozialkritik am
bürgerlich-kapitalistischen System in mannigfachen Beziehungen ein, unaufdringlich,
doch ungemein aussagekräftig. Der nachdrückliche Aufruf zur Abrüstung, hinter dem sich
van Veens Engagement in der weltweiten Friedensbewegung verbirgt, hatte hier in einer
Verbindung von Pantomimischem, Musik (Mozarts ganz schlicht gesungenes "Dona nobis
pacem") und der ohne agitatorischen Nachdruck gesprochenen Feststellung "Wir können
doch einfach ,nein' sagen" ebenso seinen Platz wie leise, doch mahnende Chansons von
ihm selbst. Er klagt in seinen Liedern die bürgerliche Konsumgesellschaft an, in der
Eltern durch ein unbekümmertes Wohlstandsleben, vorgeschützte Geschäftigkeit und
Egozentrismus ihre Kinder zur Verzweiflung und zum Selbstmord treiben ("Und sie
kommt aus der Klinik") oder in der ein angepaßtes, abgesichertes leben Individualität
verkümmern läßt ("Du bist wie sie"). Daneben sang er provozierende und
aktivierende Lieder, in denen introvertierte Haltungen parodiert
werden ("Herz") oder auch ein fortschrittliches Einmischen in
soziale Entwicklungen unterstützt und angeregt wird ("Ich hab ein zärtliches
Gefühl").
Musik und Gesangsstil dieser eindringlichen, start berührenden Chansons
sind einfach und durchsichtig, auch zärtlich und sanft oder von balladeskem Gestus.
Doch die Faszination des Programms ging nicht allein von solchen sozialkritisch
akzentuierten Titeln oder von der starken Ausstrahlung des Interpreten Herman van
Veen aus. Nicht weniger fesselte deren organische Einbettung in ein Gesamtkonzept,
in dem Rock-musikpersiflage, Lied, Chanson, parodistischer Sketch um und mit Musik
ebenso ihren Platz hatten wie clowneske, intelligente Späße, kleine Geschichten oder
auch Witze, ein Programm, das man nicht anders denn als progressive politische
Unterhaltungskunst bezeichnen kann. Pantomimische Darstellungen, conférencierartig
vorgetragene, verbindende Worte, Musik und anderes fügten scheinbar Separates zu
einem inhaltlich geschlossenen Ganzen. Herman van Veen demonstrierte damit, daß
Unterhaltung, auch die musikalische, nicht nur zerstreuendes Genießen, Ablenkung
oder gedankenlosen Konsum bedeuten muß, sondern daß durch sie fortschrittliches
soziales und politisches Bewußtsein vermittelt werden kann, ohne daß Spezifisches
von Unterhaltung verloren geht. Wie stark die Wirkung einer derartigen Synthese ist,
zeigte nicht nur der begeisterte Beifall im zweimal ausverkauften Saal, sondern
nicht minder die spür- und sichtbare Nachdenklichkeit und auch Betroffenheit
des Publikums.
Gisela Nauck
Musik und Gesellschaft / DDR / juni1982
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