"Was ich weiß, ist nicht interessant ... "
Herman van Veen, geboren am 14. März 1945 in Utrecht, Holland. Er studierte
Musik, Geige und Gesang.
1967 präsentierte er in Utrecht sein erstes Soloprogramm. 1969 trat er das
erste Mal in der Bundesrepublik auf. Dann folgten mehrere Europa - Tourneen.
Er machte einen Kinofilm, inszenierte verschiedene Theaterproduktionen,
komponierte Ballettmusik und schrieb neun Bücher.
Wir sitzen in einem Café und reden über unsere Kinder. Fotos werden
herumgereicht. Herman van Veen, ein Vater wie andere. Ein krausköpfiger
Vierjähriger - Foto seines jüngsten Sohnes - versetzt die am Tisch
Versammelten in Entzükken. Es ist 18:30 Uhr, Herman van Veen bestellt sich ein
reichliches Mahl, fuchtelt während des Essen beängstigend mit Messer und Gabel
in der Luft herum, redet, schlingt und kreuzt die Klingen; in einer Stunde
beginnt sein Konzert. Wir sprechen noch über die Familie. Seine Frau,
Schauspielerin, drei Kinder. Vater, Mutter engagierte Zeitgenossen, oft
unterwegs: „Ein Teil meines Lebens gehört meiner Familie, ein anderer gehört
meiner Arbeit für Erwachsene und Kinder, die nichts zu entscheiden und nichts
zu essen haben. Das sind Beine, auf denen ich laufe. Und ich finde, jeder
Mensch sollte einen großen Teil seines Lebens für andere verwenden." Seine
Musiker mahnen zum Aufbruch, die Techniker zahlen und gehen.
Konzertvorbereitungen. Herman, unbeeindruckt von der Hektik, bestellt sich ein
Kaffee. Hast du Lampenfieber, frage ich. Er verneint, wer sich ordentlich
vorbereitet, der hat kein Lampenfieber. Wie wahr, denkt es in mir weiter. Er
erzählt von seiner Arbeit in Holland: „Ich konzentriere mich außerhalb meiner
Konzerte auf total andere Sachen. Z. B. meine Arbeit als Vertreter der
holländischen Jugend bei UNICEF, bei „Harlekijn" , einem Vertrieb von
Klassischer Musik, Büchern, Filmen." Er hat mit einigen Freunden „Colombine"
ins Leben gerufen, eine Entwicklungshilfeorganisation, die u. a. Instrumente
zur Geburtshilfe anschafft, Hebammenausbildung in Ländern der dritten Welt
finanziert. Herman van Veens Kollegen kommen, um ihn zum Auftritt zu holen. Es
ist 19:15 Uhr. Wir verabreden uns zu einem Gespräch nach dem Konzert in der
Garderobe. Mich erwartet zweimal eineinhalb Stunden lang „Die Anziehungskraft
der Erde", ein Konzertprogramm mit Liedern, Parodien, Geschichten ,
Imitationen, poetischen Chansons, kabarettistischen Kabinettstückchen,
gestaltet von einem Mann: dem Moralisten und Humanisten Herman van Veen.
Was ich in diesen drei Stunden erlebt habe, was mit mir, was in mir geschah,
kann ich nicht beschreiben. Ich kann nur zu erklären versuchen, was nicht
geschah. Nichts Fertiges wurde mir vorgesetzt, kein Friß-oder-Stirb; nichts in
diesen drei Stunden war endgültig, unveränderbar, unverrückbar, einengend. Van
Veens
Lieder, Geschichten, Pantomimen sind hingehaucht Versatzstücke eines Ganzen,
das sich nur dem erschließt, der Kunst nicht als konsumgerecht verpackte Ware
versteht. Van Veen erleben und verstehen heißt drei Stunden intensive
Denkarbeit mit ihm, heißt emotionales und rationales Herangehen an sein Thema.
Und heißt Mut. Mut zur Liebe, Mut zum Streit, zum Leben, zum Überleben,
Selbstvertrauen. „Wenn man Selbstvertrauen hat, dann kann man alles, davon bin
ich überzeugt. Wenn wir nachdenken, in was für einer komplizierten Welt wir
leben - die Rüstung hat sich total aus der Hand entwickelt. Bei uns in
Westeuropa sind die Leute wirklich ängstlich, so ängstlich, daß man keine Lust
mehr hat, Lust zu haben. Es ist auch politisch so wahnsinnig polarisiert, so
viele Gedanken und Streitigkeiten stehen gegeneinander. Ich möchte mit meiner
Kunst Energie vermitteln, positive Energie, positive Kollektivität. Dann fängt
der Mensch erst an, zivilisiert zu sein."
Auf der Bühne haben Platz genommen: Erik van der Wurff, Piano, elektrische
Tasteninstrumente; Henk Zomer, Saxophon; Cees van der Laarse, Baß. Eine
kleine, ungewöhnliche Besetzung, denkt man an van Veens Versuche noch vor
einigen Jahren, halbe Blasorchester und Rhythmusgruppen auf die Bühne zu
stellen.
„Ich habe meine Gruppe verkleinert, es begann zu laut zu werden. Meine Musik
soll immer durchsichtig sein, einen Kontrapunkt haben." Die Bühne - schwarz
abgehangen, ein Guckkastentheater , im Hintergrund begrenzt durch einen
großmaschigen Zaun - wird interessant durch unzählige Beleuchtungsvarianten
und einen heruntergelassenen Ballon, der, unterschiedlich angestrahlt, an die
Weltraumfotos der Erde erinnert. Mann hört einstimmende Musik, sieht die Erde,
irgendwo im dunkeln Weltraum; man kann sich frei machen von Alltagssorgen und
Kleinkram. Da kommt van Veen und singt seine Lied vom Trommler:
Hörst du denn nicht den Trommler,
der beharrlich in dir schlägt,
der dich bei aller Gegenwehr
auch durch Feindeslager trägt?
Hör auf ihn, er sagt dir was;
wenn sich nichts mehr regt -
ist das ein Zeichen dafür,
daß sich gar nichts mehr bewegt ....
Dabei klettert, kriecht, fällt er durch die Reihen - bietet symbolisch sein
Herz an, hört an mancher Brust, ob da auch eins schlägt: Wir haben alle ein
Herz, haben wir es auf dem rechten Fleck? Die Leute sind belustigt, berührt,
gehemmt, enthemmt, unsicher ... War das ein Gag? Nein, das war Herman van
Veen. „Ich sage, daß ich ein Clown bin, um die Leute ein bißchen zu
provozieren. Es ist schon die Position eines Clown, von der aus ich rede. Für
die Leute ist das die Irrealität, wenn ich auf der Bühne stehe - für mich ist
das nicht so. Ich bin ein Clown ohne Maske, ohne Farbe." Gelächter im
Publikum; van Veen klaut einer Frau die Handtasche, klettert wie ein Affe,
Tasche im Maul, auf die Bühne, setzt sich nieder, wertet in aller Ruhe den
Inhalt seiner Beute aus. Slap-stick-Gag, das Publikum kickert in
Erwartungshaltung. Was jetzt passiert ist jeden Abend anders neu, nicht immer
zum Lachen. In unserem Fall gibt er die Handtasche enttäuscht zurück.
Eigentlich ist das doch keine Kunst, könnte man sagen - es wird zur Kunst,
gelangt zur Vollendung unter Einbeziehung des Publikums.
Van Veens Arbeit auf der Bühne zeichnet sich durch rigorosen Kunstwillen,
schmerzliche Wahrheitssuche („Und sie kommt aus der Klinik"), rückhaltlose
Selbstoffenbarung, durch hohe Sensibilität für die Krisen und Probleme der
Epoche („Wenn’s nun anders ausgegangen wär") und die Gefährdungen des Menschen
aus. Er hat einen Blick für die kleinen Dinge, die insgesamt die Welt sind.
„Wenn ich etwas sehe, dann denke ich immer: ja, wieso denn? Und wenn ich mich
etwas frage, dann fange ich an zu schreiben. Das ist nie ein Lied oder ein
Gedicht, das wird vielleicht eins. Meistens fängt es so an, daß ich über einen
Satz improvisiere, dann kommt noch ein Satz dazu, und wir fangen an, eine
Struktur aufzubauen. Ich denke bei der Erarbeitung neuer Sachen kaum an das
Publikum, nur wenn ich konkret mit dem Publikum zu tun habe, dann spielt es
mit."
Nach drei Stunden Musik, Pantomime, Liedern Geschichten klatschen die Leute
wie besessen und verlangen Zugabe um Zugabe. Irgendwann ist van Veen am Ende
seiner Kräfte und erscheint nicht mehr auf der Bühne. Das Gros begreift und
erhebt sich von den Plätzen, nur ein paar unermüdliche, vereinsamte Damen
rufen erst schrill, dann sanft nach „ihrem" Herman.
In einem Konzert, so erzählt man sich, soll Herman van Veen nach den ersten
Liedern sehr nachdrücklich um Ruhe im Publikum gebeten haben. Ein paar Leute
hatten sich im Parkett unterhalten. Das stört bei leisen Liedern. Am Ende des
Konzertes, einige Zugaben waren schon gelaufen, begann er mit einer
Improvisation. Sein Trio spielte, er lief mit großen Schritten über die Bühne
und flüsterte leise in sein Mikrofon: „Zwischenfall, es gab einen
Zwischenfall, ich mußte die Leute zur Ordnung rufen, das macht man nicht,
Herman, du hast keine Nerven,
Herman ..." Er verbeugte sich tief vor dem Publikum und entschuldigte sich für
seine Ungeduld. War das holländische Höflichkeit? „Ich bin ein Künstler, der
wahnsinnig an sich zweifelt. Ich glaube, die wirkliche Basis für meine Kunst
ist, daß ich nur das zeigen kann, was ich empfinde. Was ich weiß, daß ist
nicht interessant; was ich nicht weiß, daß interessiert die Leute, damit
können sie sich identifizieren. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann ist das
immer der letzte Abend für mich. Ich habe das Gefühl, wir sind jetzt zusammen,
und da muß ich alles geben, was ich habe. Das mache ich nun schon 15 Jahre.
Die Tatsache, daß man Erfolg hat, ist wie ein Bahnhof. Man kommt rein, man
geht `raus, und auf dem Bahnhof ist Beschäftigung - mal ist ein Zug da und mal
ist es wieder leer."
Es ist schon nach 23:00 Uhr. Ich weiß nicht recht, ob ich die Verabredung mit
ihm ernst nehmen soll, drängle mich dann doch durch die Massen bis zu seiner
Garderobe, werde freundlich, ein wenig erschöpft empfangen. Herman sitzt im
Bademantel, Beine auf dem Tisch, auf dem Sofa neben ihm haben seine Eltern
Platz genommen, ihn lächelnd bewundernd. Der Vater hilft ihm ab und an mit
einem deutschen Wort aus. „Mein Deutsch ist nicht so gut ..." Die Mutter
schenkt ihm Orangensaft ein. Ich stelle meinen Recorder an und frage: Wie
wirst du mit deinem Erfolg fertig? Zweifelst du manchmal an dir? Warum
bezeichnest du dich als Clown? Kannst du etwas zu deiner musikalischen
Konzeption sagen? Wie heißt dein Thema, dein Anliegen? usw. ...
Wir lachen uns an. Auf meinem Kassettenrecorder höre ich seinen letzten Satz:
„Nun, ich singe einfach, mit dem Herz und Knien. Wenn die Zuhörer wissen, daß
ich blaue Augen habe, dann ist alles in Ordnung ..."
[Barbara Thalheim]
Barbara Thalheim